BAG, Urteil vom 8. Juni 1999 - 1 AZR 831/98 -
Vorinstanz: LAG Köln, Urteil vom 2. Juli 1998 - 6 Sa 395/98 -
Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte darüber zu entscheiden,
ob Mitbestimmungsrechte nach der Kleinbetriebsklausel des § 111
BetrVG auch dann entfallen, wenn eine geplante Betriebsänderung
mehrere Kleinbetriebe eines größeren Unternehmens betrifft.
Die Beklagte befaßt sich mit der Vermittlung von Versicherungen
und Bausparverträgen. Ihr Unternehmen war zuletzt gegliedert in
eine Hauptverwaltung mit 21 Arbeitnehmern sowie vier sogenannte Vertriebsbereiche,
in denen jeweils weniger als 21 Außendienstmitarbeiter zusammengefaßt
waren. Sowohl in der Hauptverwaltung als auch in den Vertriebsbereichen
waren Betriebsräte gewählt. Diese hatten einen Gesamtbetriebsrat
gebildet. 1997 beschloß die Beklagte, künftig statt festangestellter
Außendienstmitarbeiter nur noch freie Handelsvertreter mit dem
Vertrieb zu beauftragen. Sie kündigte die Arbeitsverhältnisse
der Außendienstmitarbeiter darunter auch das des Klägers.
Verhandlungen über einen Interessenausgleich hat sie weder mit
den Einzelbetriebsräten noch mit dem Gesamtbetriebsrat geführt.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. §
113 Abs. 3 BetrVG geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten,
die Beklagte sei verpflichtet gewesen, einen Interessenausgleich zu
versuchen. Dem stehe nicht entgegen, daß in den aufgelösten
Vertriebsbereichen jeweils weniger als 21 Arbeitnehmer beschäftigt
waren. Maßgeblich sei die Gesamtzahl der im Unternehmen beschäftigten
Arbeitnehmer. § 111 BetrVG sei zur Vermeidung einer sachwidrigen
Ungleichbehandlung dahin auszulegen, daß Kleinbetriebe nicht ausgenommen
seien, wenn sie einem größeren Unternehmen angehörten.
Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung eines Nachteilsausgleichs
gem. § 113 Abs. 3 BetrVG verurteilt. Die hiergegen eingelegte Revision
blieb ohne Erfolg.
Der Senat hat in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht
angenommen, daß die Beklagte verpflichtet war, mit dem Gesamtbetriebsrat
einen Interessenausgleich zu versuchen. Allerdings besteht nach dem
Wortlaut des § 111 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats
bei Betriebsänderungen nur in Betrieben mit in der Regel mehr als
20 wahlberechtigten Arbeitnehmern. Die Beschränkung trägt
dem Umstand Rechnung, daß Kleinunternehmen häufig weniger
belastungsfähig sind und einen größeren unternehmerischen
Entscheidungsspielraum benötigen. Dieser Gesichtspunkt paßt
jedoch nicht für Kleinbetriebe, die einem größeren Unternehmen
angehören. Gegen deren Privilegierung bestehen daher im Hinblick
auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Bedenken. § 111 BetrVG
bedarf der ergänzenden Auslegung, um Wertungswidersprüche
zu vermeiden. Ein Mitbestimmungsrecht besteht bei Betriebsänderungen
jedenfalls auch dann, wenn diese mehrere Betriebe betreffen und in die
Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats fallen. Nach dem Schutzzweck
der Kleinbetriebsklausel ist in einem solchen Fall auch für die
Berechnung des Schwellenwertes nach § 111 BetrVG betriebsübergreifend
auf das Unternehmen abzustellen.
Danach hätte die Beklagte im Streitfall mit dem Gesamtbetriebsrat
einen Interessenausgleich versuchen müssen. Die grundsätzliche
Umstellung des Vertriebssystems sowie die Entlassung von 60 der insgesamt
80 Arbeitnehmer war eine betriebsübergreifende Maßnahme.
Da die Beklagte keinen Interessenausgleich versucht hat, ist sie gem.
§ 113 Abs. 3 BetrVG zur Zahlung einer Abfindung verpflichtet.
BAG, Urteil vom 8. Juni 1999 - 1 AZR 831/98 -
Vorinstanz: LAG Köln, Urteil vom 2. Juli 1998 - 6 Sa 395/98 -