6. AUFGABEN FÜR DIE KIRCHEN
(191) Gottes Nähe bei den Menschen können die Kirchen nur
glaubwürdig verkündigen, wenn sie selbst nach Wegen suchen,
um in ihrem eigenen Bereich das umzusetzen, was an Leitbildern, Orientierungen
und Forderungen im Mittelpunkt dieses Gemeinsamen Wortes steht. Die
Leitbilder "Solidarität", "Gerechtigkeit" und "Nachhaltigkeit"
sind nicht nur Ausdruck zentraler Grundgedanken des christlichen Glaubens,
sie stehen auch in einem engen Zusammenhang mit dem Selbstverständnis
der Kirche als einer "Kirche für andere" (D. Bonhoeffer), einer
Gemeinschaft der Liebe zu den Mitchristen und zu den Nächsten,
einer Gemeinschaft des Miteinanders und der Teilhabe, sowie einer Gemeinschaft
der Verantwortung für Gottes Schöpfung.
(192) Mit ihren Traditionen, mit ihren Diensten, mit ihrem vielfältigen
Engagement und mit ihrer Ethik verfügen die Kirchen bereits über
einen reichen Schatz. Die sozialengagierte, die caritative, die politisch
mitverantwortende Kirche muß nicht erst geschaffen werden, sie
ist da und sie kann ihren Dienst weiter entfalten und sich selbst erneuern.
Hier ist an die vielen guten und bewährten Dienste in den Gemeinden,
in Kirchenkreisen, Diözesen, Diakonie und Caritas zu erinnern,
an die sozialethischen Arbeitskreise, die Akademien, die Verbände,
die engagierten Gruppen und Kooperativen, die zahllosen Projekte. Deshalb
haben sich auch viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sowie engagierte Laien in dieser kirchlichen Arbeit am Konsultationsprozeß
der Kirchen beteiligt und in ausführlichen Stellungnahmen auf die
Aufgabe ihrer Kirchen, für eine solidarischere und gerechtere Zukunft
einzutreten, hingewiesen. So hat der Konsultationsprozeß nicht
nur Defizite und Aufgaben deutlich gemacht, sondern er ist ein Zeugnis
für die Lebendigkeit und das Engagement der Kirchen.
(193) Zur notwendigen Selbstbesinnung auf ihre Aufgaben und Möglichkeiten
gehört aber auch die Selbstkritik. In kritischer Selbstwahrnehmung
und in der Reaktion auf kritische Anfragen von außen müssen
die Kirchen sich auch selbst fragen, ob die in ihnen herrschenden Strukturen
und Mentalitäten den anstehenden Aufgaben förderlich oder
hemmend sind. Die Kirchen können auch nicht von der Frage absehen,
inwiefern sie selbst zur Verschärfung der gesellschaftlichen Problemlagen
beitragen, die sie zugleich mit guten Gründen beklagen.
(194) Solidarität: Den christlichen Glauben leben bedeutet, für
mehr Solidarität, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit
einzutreten. Dieses Engagement ist eine genuine Lebensäußerung
der Kirche. Nur eine Kirche, in der Liebe zu Gott und den Mitmenschen
gelebt wird, ist eine glaubwürdige Kirche. Wahrnehmungsfähigkeit
und Wahrnehmungsbereitschaft spielen hier eine wichtige Rolle. Menschen,
die unter Arbeitslosigkeit oder Armut leiden, leben oft mitten in der
Gesellschaft an der Peripherie. Nur wenn nicht unmittelbar Betroffene
eine entsprechende Wahrnehmungsbereitschaft entwickeln, setzt ein Prozeß
des Verstehens ein. Deshalb kommt den freien Initiativen mit Arbeitslosen,
Armen und sozial Schwachen besondere Bedeutung zu. Es ist wichtig, daß
Kirchengemeinden mit Hilfe solcher Initiativen die sie umgebende soziale
Wirklichkeit wahrnehmen und den sozial Benachteiligten in ihrer eigenen
Mitte Aufmerksamkeit schenken. Diakonie- und Caritasarbeitskreise, Besuchsdienstkreise
und Treffpunkte für Arbeitslose sind Ansatzpunkte dafür, die
soziale Kompetenz der Gemeinden zu erhöhen. Gemeindlich unterstützte
Initiativen von Arbeitslosen und Gemeindeinitiativen mit Arbeitslosen
haben sich an vielen Orten gebildet. Viele Gemeinden haben sich (oft
im Zusammenwirken mit Diakonie und Caritas) der Obdachlosenarbeit geöffnet.
(195) In dem Maß, in dem Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen
und Einrichtungen eine Sensibilität für gesellschaftliche
Verwerfungen und Randständigkeiten entwickeln, können sie
die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungsorgane
auf sie aufmerksam machen. Der Konsultationsprozeß hat in dieser
Hinsicht viele Gemeinden bewußter gemacht im Blick auf die sozialen
Probleme in ihrem eigenen Bereich und im Blick auf die wirtschaftliche
gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Es ist wichtig, daß die
Gemeinden die Arbeitslosen und die Notleidenden in ihren eigenen Reihen
kennen, Diakoniearbeitskreise und Besuchsdienstkreise unterhalten, soziale
und wirtschaftliche Fragen in ihren Kreisen diskutieren.
(196) Hier läßt sich in breitem Maße auf Bestehendem
aufbauen. In vielfältiger Gestalt gibt es kirchlich getragene soziale
Betriebe, Jugendwerkstätten, Baugruppen zur Renovierung von Sozialwohnungen
oder Jugendheimen, Projekte "Neue Arbeit", Stadtteilarbeit, Treffpunkte
für Angehörige verschiedener Generationen oder Initiativen,
die den Strukturwandel in einer Region sozialethisch begleiten. Mit
sozialer Phantasie, Ideenreichtum, Experimentierfreude und beharrlicher
Arbeit können neue und hilfreiche Ansätze angestoßen
und neue Modelle (auch im Zusammenwirken mit nichtkirchlichen Trägern,
wie dies an vielen Stellen geschieht) erprobt werden. Diese Art des
kirchlichen Engagements sollte weiterhin verstärkt werden. Die
bestehenden Initiativen können zur Nachahmung anregen. Gemeinden,
Kirchenkreise, kirchliche Werke und soziale Einrichtungen sollten lokale
Beschäftigungsinitiativen verstärkt fördern und selbst
als Beschäftigungsträger tätig werden.
(197) Gerechtigkeit: Beteiligungsgerechtigkeit in der Kirche bedeutet
Beteiligung der einzelnen an den Aufgaben und der Mitverantwortung im
Dienst der Kirche, Beteiligung an den zu tragenden Lasten und Pflichten
und Beteiligung an Chancen und Möglichkeiten. Das kirchliche Engagement
für die Beteiligungsgerechtigkeit in außerkirchlichen gesellschaftlichen
Bereichen muß auch im innerkirchlichen Bereich seine Entsprechung
finden, wenn die Kirche überzeugend wirken will.
(198) Das gilt zunächst für die regulären Beschäftigungsverhältnisse
in der Kirche und die mit ihnen verbundenen Rechte der Mitarbeitervertretungen
und arbeitsrechtlichen Kommissionen. Den Grundsatz der Gleichstellung
von Frauen und Männern gilt es in besonderem Maß zu bedenken.
Hier ist zu denken an die Einbeziehung von Frauen in die Mitverantwortung,
an Frauenförderpläne und an die Berücksichtigung frauenspezifischer
Lebenslagen. Modelle einer intelligenten, aber tarifgerechten Arbeitszeitflexibilisierung
sollten vorangetrieben werden. In diesem Zusammenhang müssen auch
leitende kirchliche Mitarbeiterinnen und insbesondere Mitarbeiter lernen,
ihre Arbeitsplätze mit anderen Kolleginnen und Kollegen zu teilen.
Besondere Beachtung verdienen Vorschläge, die auf maßvolle
Gehaltskurzungen bei kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
den mittleren und oberen Gehaltsgruppen zielen. In den östlichen
Gliedkirchen der EKD wird vorgeschlagen, freiwillig auf eine Anhebung
der Gehälter auf Westniveau zu verzichten und die entsprechenden
Beträge in einen Fonds einzuzahlen. Ein solcher Fonds soll für
die Armutshilfe in Deutschland, für Unterstützungszahlungen
nach Osteuropa und für Hilfsprojekte in den südlichen Ländern
der Erde genutzt werden. In dieser oder ähnlicher Weise können
neue Modelle des Teilens erprobt werden.
(199) Die Gehaltsunterschiede in der Kirche sollten maßvoll sein
und davon zeugen, daß die Kirche eine besondere Gemeinschaft ist,
die nicht in allen Dingen die Welt nachahmt. Immer wieder wurde in den
Eingaben zum Konsultationsprozeß die Abschaffung geringfügiger
Beschäftigungsverhältnisse in der Kirche gefordert. Einschränkungen
in einer Zeit der geringeren Einkünfte sollte von allen in gleicher
Weise hingenommen werden und nicht einfach nur auf besondere Schwerpunkte
beschränkt sein. Die Finanzkrise der Kirche kann auch eine Chance
sein, um die Besonderheit eines geschwisterlichen Miteinanders, das
vom Glauben an Gottes Gerechtigkeit und Liebe geprägt ist, deutlich
zu machen.
(200) Verantwortliches Handeln ist dort besonders gefordert, wo einschneidende
Sparmaßnahmen unausweichlich sind. Hier muß gelten, daß
dem Teilen von Arbeit der Vorrang vor dem Abbau von Stellen und vor
Entlassungen zukommt. Ist in einer kirchlichen Einrichtung ein Stellenabbau
unvermeidlich, so ist in Abstimmung mit der Mitarbeitervertretung für
die Betroffenen ein Sozialplan zu erstellen. Gleichwohl: Entlassungen
aufgrund einer prekären Haushaltslage mögen betriebswirtschaftlich
begründet sein, ein Zeichen für nicht gelingende Solidarität
und Beteiligungsgerechtigkeit in der Kirche sind sie letzten Endes doch.
(201) Für die Kirchen gehört auch der Umgang mit dem eigenen
Vermögen in den Zusammenhang der Beteiligungsgerechtigkeit. Im
Konsultationsprozeß wurde vielfach Transparenz in diesem Bereich
eingefordert. Eine offene Diskussion über einen ethisch gerechtfertigten
Umgang mit kirchlichem Vermögen setzt Klarheit über Umfang
und Verwendung dieses Vermögens voraus. Inwieweit die Veräußerung
von Teilen des Vermögens oder seine Vergabe in Erbpacht für
die Finanzierung vordringlicher kirchlicher Aufgaben herangezogen werden
können, muß genau geprüft werden; der Konsultationsprozeß
hat gezeigt, daß solche Fragen nicht ausgeblendet werden können.
Dasselbe gilt für die Mehrfachnutzung kirchlicher Räume und
die Vergabe ungenutzter Räume an gemeinnützige Einrichtungen
oder sozial förderungswürdige private Nutzer. Auch die kirchlichen
Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsunternehmen treten in den Blick,
denn sie tragen für die Wohnungsversorgung von Menschen, die von
Armut und Wohnungsnot besonders betroffen sind, eine besondere Verantwortung.
(202) Der Grundsatz der Beteiligung setzt auf das gemeinsame Wahrnehmen
von Verantwortung. Nicht nur in der Kirche selbst soll Verantwortung
gemeinsam wahrgenommen werden, sondern die Kirche sollte sich auch an
gesellschaftspolitischen Initiativen, bei denen es um Kernfragen des
Miteinanders geht, beteiligen. Mit Erfolg haben manche Gemeinden, Kirchenkreise
und Diözesen Runde Tische sozialer Verantwortung ins Leben gerufen.
In solchen Initiativen wird versucht, das Gespräch zwischen Vertretern
und Vertreterinnen aus Kommunen, Ämtern und Frauenbeauftragten,
Sozialbehörden, Arbeitsverwaltungen, Kammern und Betrieben, Gewerkschaften
und Medien über die sozialen Probleme vor Ort anzustoßen.
"Runde Tische" bewahren sich in solchen Fällen, weil sie das Bewußtsein
stärken, daß regionale Probleme wirtschaftlicher und sozialer
Art nur gemeinsam bewältigt werden können. Sie sind ein wertvoller
Beitrag zur Dialogkultur und zum gesellschaftlichen Miteinander.
(203) Nachhaltigkeit: Das Leitbild der Nachhaltigkeit schließt
umweltverträgliches und zukunftsfähiges Wirtschaften ein.
Bei Bauvorhaben und bei der Bewirtschaftung kirchlicher Einrichtungen
ist deshalb darauf zu achten, daß die außermenschliche Schöpfung
so wenig wie möglich belastet wird. Wenn die Kirchen fordern, um
der Verantwortung gegenüber der Mitwelt wie gegenüber den
nachfolgenden Generationen willen zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise
überzugehen, müssen sie im eigenen Bereich damit beginnen.
(204) Dies betrifft nicht nur umweltverträgliches und zukunftsfähiges
Bauen im kirchlichen Bereich, nicht nur Fragen des Energieverbrauchs
in der Kirche und umweltgerechter Praxis. Es geht auch um Fragen eines
neuen Lebensstils, der gerade in Kirchen und Gemeinden versucht und
erprobt sowie zeichenhaft gelebt werden kann. Einzelne und Gruppen,
die hier neue Ansätze versuchen, können (ggf im Zusammenwirken
mit außerkirchlichen Gruppen) Möglichkeiten und Wege aufzeigen,
wie übertriebene Konsummentalität, Wegwerfdenken, extensive
Mobilität, unbedachter Verbrauch von Ressourcen, Verschwendung
und das Schaffen von Belastungen abgebaut werden können. Anknüpfend
an asketischen Traditionen in den Kirchen können Ansätze einer
Kultur der Bescheidenheit und der Naturverträglichkeit entwickelt
werden, die plausibel wirken und praktikabel sind und eine überzeugende
Alternative zu bestehenden Lebensmustern sein können. Ein neuer
Lebensstil betrifft auch das soziale Verhalten, die Veränderung
von Einstellungen und Maßstäben. Hier geht es um eine Umkehr
im biblischen Sinn, nämlich eine "Metanoia", dh. um ein "Umdenken",
eine Veränderung des Denkens. Wichtig ist hierbei, daß Menschen
für Veränderungen zu unternehmen, und nicht, daß hohe
oder allzuhohe Forderungen erhoben werden, die wenig einladend sind
und letztlich viele abhalten, erste Schritte zu einem verantwortungsbewußteren
Lebensstil gewonnen werden. Wichtig ist außerdem, daß bei
Eintreten für einen neuen Lebensstil deutlich ist, daß vielen
Menschen im Lande Einschränkungen und Grenzen aufgrund gesellschaftlicher
Benachteiligungen in einer oft unerträglichen Weise aufgezwungen
sind.
(205) Kirche in der Gesellschaft: Kirchengemeinden und kirchliche Gruppen
haben besondere Möglichkeiten, aus eigener Arbeit heraus wichtige
Impulse in die Diskussion der gesellschaftlichen Öffentlichkeit
hinein zu vermitteln. Deshalb müssen das Nachdenken über die
soziale Situation und das Engagement in ihr fortgesetzt werden. Das
"Gemeinsame Wort" soll dafür eine Orientierungshilfe sein. Es soll
den Konsultationsprozeß nicht abschließen, sondern weitere
Schritte ermöglichen. Alle Gemeinden, kirchlichen Gruppen. und
Einrichtungen rufen wir dazu auf, sich am Konziliaren Prozeß für
Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zu beteiligen
und sich dabei mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage in unserer
Gesellschaft engagiert auseinanderzusetzen.
(206) Zu den Konsequenzen, die aus den Kerngedanken dieses Gemeinsamen
Wortes von Seiten der Kirchen zu ziehen sind, gehört das Bewußtwerden
um den Auftrag für die Gesellschaft. Die Kirchen sind mehr als
"Sinnagenturen", mehr als Einrichtungen für religiöse Belange
und mehr als nur soziale Dienstleistungsunternehmen. Sie sind Gemeinschaften
von Christen, die im Alltag der Welt ihr Leben in der Verantwortung
vor Gott führen wollen und aus ihrem christlichen Glauben heraus
einen wertvollen Beitrag für eine solidarischere Gesellschaft,
für mehr Beteiligungsgerechtigkeit und für mehr Nachhaltigkeit
und Schöpfungsverantwortung leisten können.
(207) Das Sich-Bekennen zur gesellschaftlichen, zur wirtschaftlichen,
zur politischen und zur ökologischen Mitverantwortung läßt
sich nicht trennen von dem Bekenntnis der Christen zu dem Gott des Lebens
der einen Bund mit den Menschen geschlossen hat.. Christen dürfen
nicht schweigen, wenn sie beobachten, daß Menschen benachteiligt
und ausgegrenzt, bewährte Ordnungen ausgehöhlt und (...) Natur
oder Sozialkultur gefährdet werden. Sie müssen sich beteiligen
am gemeinsamen Nachdenken in der Gesellschaft über die herausragenden
Zukunftsaufgaben, mit anderen gesellschaftlichen Kräften und Gruppen
zusammenwirken und dabei ihre eigene, spezifisch christliche und kirchliche
Rolle finden. Und sie müssen auch klar Position beziehen, wenn
die Menschlichkeit und Menschenwürde sowie wertvolle Güter
und Grundwerte gefährdet sind. Die Kirchen können zur Meinungsbildung
und Bewußtseinsbildung in der Gesellschaft beitragen, sie können
helfen, Tabus zu brechen, und sie können umgekehrt auch tabuisieren,
wo Gefährdetes geschützt werden muß. Der Konsultationsprozeß
der Kirchen kann ein Anfang sein auf einem Weg zu einem neuen Zusammenwirken
in den Kirchen.
(208) Entscheidend ist das Gebet. Darin wenden sich die Christen an
Gott, den Schöpfer und Herrn über die Geschichte. Von ihm
erbitten sie Kraft für ihren Dienst. Aus dem Vertrauen zu dem barmherzigen
und gnädigen Gott und aus dem Vertrauen auf seine Verheißungen
kann Zuversicht wachsen, daß eine solidarischere und gerechtere
Zukunft möglich ist.