Wort des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz
zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland
Herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland,
Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, und vom
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 163,
53113 Bonn
Inhalt
Vorwort
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche
Bischofskonferenz legen ihr Wort zur wirtschaftlichen und sozialen
Lage in Deutschland in einer Zeit vor, in der mutiges und
weitsichtiges Handeln besonders gefragt ist. Die Arbeitslosigkeit in
Deutschland hat einen Höchststand nach dem Zweiten Weltkrieg
erreicht. Der Sozialstaat ist an Belastungs- und Finanzierungsgrenzen
gestoßen. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im Zuge
der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel und
hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Anspruchsdenken und
Egoismus nehmen zu und gefährden den solidarischen Zusammenhalt
in der Gesellschaft.
Geleitet und ermutigt durch das christliche Verständnis vom
Menschen, durch die biblische Botschaft und die christliche
Sozialethik wollen die Kirchen ihren Beitrag zu der notwendigen
Neuorientierung der Gesellschaft und Erneuerung der Sozialen
Marktwirtschaft leisten. Ihr Anliegen ist es, zu einer
Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer
menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung
von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame
Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und
Gerechtigkeit möglich zu machen. Die Kirchen sehen es dabei
nicht als ihre Aufgabe an, detaillierte politische oder
ökonomische Empfehlungen zu geben. Es ist auch nicht ihre Sache,
zu aktuellen politischen Streitfragen Stellung zu beziehen und eine
Schiedsrichterrolle zu übernehmen. Die Kirchen sehen ihren
Auftrag und ihre Kompetenz vor allem darin, für das einzutreten,
was dem solidarischen Ausgleich und zugleich dem Gemeinwohl
dient.
Das Wort der Kirchen ist in sechs Kapitel gegliedert. Kapitel 1
nimmt eine Würdigung des Konsultationsprozesses vor, der der
Erstellung des gemeinsamen Wortes vorausgegangen ist. Die Kapitel 2
bis 5 orientieren sich an dem Strukturprinzip sehen - urteilen
- handeln". Im Schlußkapitel soll deutlich gemacht werden,
daß das gemeinsame Wort für die Kirchen auch
Selbstverpflichtung bedeutet.
Die Kapitel 2 bis 5 haben einen unterschiedlichen Charakter.
Kapitel 3 und 4 weisen auf die Prinzipien und Maßstäbe
hin, die nach Ansicht der Kirchen unabdingbare Voraussetzung für
eine solidarische und zukunftsgerechte Gesellschafts- und
Wirtschaftsordnung sind. Vor allem um diesen Grundkonsens geht es den
Kirchen. Dazu erhoffen sie sich eine breite Zustimmung. Die
Konkretisierungen und Richtungshinweise in den Abschnitten 2 und 5
hingegen sind ein Beitrag zur öffentlichen Verständigung
über Probleme und mögliche Lösungswege.
Den sechs Kapiteln vorangestellt ist eine Art Hinführung, die
die Grundgedanken systematisch zusammenfaßt. Dieser
Kurztext" kann und soll das ausführliche Wort nicht
ersetzen. Aber er erleichtert es, die Intention der Kirchen zu
erfassen und sich über ihre Grundanliegen einen Überblick
zu verschaffen.
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche
Bischofskonferenz haben ihr Wort in einem breit angelegten
Konsultationsprozeß vorbereitet. An der Durchführung des
Prozesses haben sich weitere Kirchen beteiligt. Zahlreiche
Stellungnahmen sind eingereicht worden. Allen, die auf die eine oder
andere Weise mitgewirkt haben, ist sehr herzlich zu danken.
Hannover/Bonn, am 22. Februar 1997
Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Bischof Dr. Karl Lehmann
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Hinführung
(1) Das vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von
der Deutschen Bischofskonferenz vorgelegte Wort der Kirchen
trägt den Titel: Für eine Zukunft in Solidarität
und Gerechtigkeit". Es bezieht sich auf die aktuelle Diskussion
über Maßstäbe der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In
ihr sind zwei Begriffe in den Vordergrund getreten:
Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Es genügt nicht, das
Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen
Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den
Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu kurzfristigem
Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative. Aber das
individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht
erschöpfen. Wer notwendige Reformen aufschiebt oder
versäumt, steuert über kurz oder lang in eine
existenzbedrohende Krise.
(2) Die Kirchen treten dafür ein, daß Solidarität
und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer
zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik
allgemeine Geltung erhalten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, in der
gegenwärtigen Situation auf Perspektiven des christlichen
Glaubens für ein humanes Gemeinwesen, auf das christliche
Verständnis vom Menschen und auf unveräußerliche
Grundwerte hinzuweisen. Solidarität und Gerechtigkeit sind
notwendiger denn je. Tiefe Risse gehen durch unser Land: vor allem
der von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riß, aber
auch der wachsende Riß zwischen Wohlstand und Armut oder der
noch längst nicht geschlossene Riß zwischen Ost und West.
Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine
unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen
Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr
partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen. Manche
würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied
geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen
stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein. Für
die Kirchen und Christen stellt dieser Befund eine große
Herausforderung dar. Denn Solidarität und Gerechtigkeit
gehören zum Herzstück jeder biblischen und christlichen
Ethik.
(3) Diese Hinführung faßt die Hauptgedanken des Wortes
zusammen. Sie tut das nicht in der Form einer Inhaltsangabe der
einzelnen Kapitel, sondern durch eine systematische, in 10 Thesen
entfaltete Darstellung:
1. Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen
Politik möglich machen.
(4) Das Wort der Kirchen ist kein alternatives
Sachverständigengutachten und kein weiterer
Jahreswirtschaftsbericht. Die Kirchen sind nicht politische Partei.
Sie streben keine politische Macht an, um ein bestimmtes Programm zu
verwirklichen. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie auf dem
Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor allem darin, für
eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient.
Sie betrachten es als ihre besondere Verpflichtung, dem Anliegen
jener Gehör zu verschaffen, die im wirtschaftlichen und
politischen Kalkül leicht vergessen werden, weil sie sich selbst
nicht wirksam artikulieren können: der Armen, Benachteiligten
und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen
Kreatur. Sie wollen auf diese Weise die Voraussetzungen für eine
Politik schaffen, die sich an den Maßstäben der
Solidarität und Gerechtigkeit orientiert.
(5) Der Konsultationsprozeß ist dafür ein
vorzügliches Beispiel. In ihm vollzog sich ein intensiver
Prozeß der Bewußtseinsbildung und des gemeinsamen
Lernens. Das hat mit politischem Handeln viel mehr zu tun, als auf
den ersten Blick erkennbar ist. Handlungsfähigkeit und
Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie
entscheidend durch Einstellungen und Verhaltensweisen aller
Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Der kirchliche Beitrag,
wie etwa im Konsultationsprozeß, ist um so erfolgreicher, je
mehr es ihm gelingt, Einstellungen und Verhaltensweisen zu
verändern und dadurch die politischen Handlungsspielräume
zu erweitern, und umgekehrt um so erfolgloser, je weniger er in
dieser Hinsicht auslöst und bewirkt. In einer Demokratie sind
die Handlungsspielräume der Politik abhängig von den
Einstellungen und Verhaltensweisen der Wählerinnen und
Wähler. Aus der Verantwortung aber, die vorhandenen und die neu
geschaffenen Handlungsspielräume mutig zu nutzen, kann die
Politik nicht entlassen werden.
2. Die Qualität der sozialen Sicherung und das
Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.
(6) Die Diskussionsgrundlage, mit der die Kirchen im November 1994
den Konsultationsprozeß angestoßen haben, wurde
häufig als Sozialpapier" bezeichnet. Das ist eine
Verkürzung, die weder der Intention der Kirchen noch der
gestellten Aufgabe gerecht wird. Um beides soll es gehen: um die
soziale und die wirtschaftliche Lage. Denn die Qualität und
finanzielle Stabilität der sozialen Sicherung und das
Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.
Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum an
Gütern und Dienstleistungen erbracht worden ist. Wird dieser
Sachverhalt ignoriert und das gesamtwirtschaftliche
Leistungsvermögen dauerhaft durch einen überproportionalen
Anstieg der vom Staat vorgenommenen Umverteilung überfordert,
dann werden die finanziellen Fundamente der sozialen Sicherung
unterspült.
(7) Der dynamische Charakter des marktwirtschaftlichen Systems,
der dem Westen Deutschlands vor allem in den 50er und 60er Jahren
zugute gekommen ist, wirkt sich gegenwärtig zugunsten anderer
Anbieter in der globalisierten Wirtschaft aus. Daraus entsteht ein
Anpassungsdruck auf die deutsche Volkswirtschaft, der sich auch im
Abbau von Arbeitsplätzen niederschlägt. Die Schaffung neuer
Arbeitsplätze hält damit nicht Schritt. Die mit dieser
Entwicklung verbundenen Gefahren dürfen nicht verniedlicht und
kleingeredet werden. Es besteht dringlicher Handlungsbedarf.
(8) Die wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland darf
aber auch nicht schlecht geredet werden. Die anhaltenden
Exportüberschüsse belegen die nach wie vor hohe
Leistungsfähigkeit großer Teile der deutschen
Volkswirtschaft. Die Lohnstückkosten sind ein wesentlicher,
freilich nicht der alleinige ökonomische Faktor.
Tarifpartnerschaft und soziale Sicherung haben zu einem sozialen
Frieden geführt, der sich als bedeutsamer Standortvorteil
erwiesen hat.
3. Die Soziale Marktwirtschaft braucht eine strukturelle und
moralische Erneuerung.
(9) Eine Wirtschafts- und Sozialordnung kommt nicht ohne
rahmengebende rechtliche Normierungen und Institutionen aus. Appelle
genügen nicht. Dieser Einsicht hat das Konzept der Sozialen
Marktwirtschaft Rechnung getragen. Es wird in der Bundesrepublik
Deutschland seit fünf Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Die
Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich waren dabei die bei
den tragenden Säulen. Die Kirchen sehen im Konzept der Sozialen
Marktwirtschaft weiter hin - auch für die andauernde, mit
großen Härten verbundene wirtschaftliche Konsolidierung
der neuen Bundesländer und für die Vertiefung und
Erweiterung der europäischen Einigung - den geeigneten Rahmen
für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das
Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der
sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die
Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist die Gefahr groß,
daß die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen
Sicherung gestärkt werden soll. Nicht nur als Anwalt der
Schwachen, auch als Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den
Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben.
(10) Eine wesentliche Bedingung für den Erfolg der Sozialen
Marktwirtschaft war ihre beständige Verbesserung. Das setzt
Reformfähigkeit vor aus. Heute dagegen sind Besitzstandswahrung
und Strukturkonservatismus weit verbreitet, und zwar auf allen
Seiten. Besitzstandswahrung darf nicht zu einem Kampfbegriff in der
Diskussion um den Umbau des Sozialstaats werden. Auch die
Verteidigung von Besitzständen an Subventionen und steuerlichen
Vorteilen verhindert Reformen.
(11) Grundlegend muß die Erneuerung der wirtschaftlichen
Ordnung auf ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch
und global verpflichteten Marktwirtschaft zielen. Wer die
natürlichen Grundlagen des Lebens nicht bewahrt, zieht aller
wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen
weg. Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach
nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen
weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die
ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten. Die
Erwartung, eine Marktwirtschaft ohne solche Verpflichtungen, eine
gewisser maßen adjektivlose, reine Marktwirtschaft könne
den Herausforderungen besser gerecht werden, ist ein Irrglaube.
(12) Die Strukturen allein reichen allerdings nicht. Eine sozial,
ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist
moralisch viel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist.
Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben,
eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur. Der
individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der
Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen Egoismus.
Die offenkundigste Folge sind Bestechung, Steuerhinterziehung oder
der Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen. Es ist
eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine
gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben.
(13) Die Kirchen haben in der biblischen und christlichen
Tradition einen reichen Schatz, der wie in der Vergangenheit so auch
in der Zukunft kulturprägend wirksam gemacht werden kann. Sie
stehen für eine Kultur des Erbarmens. Die Erfahrung des
Erbarmens Gottes, von der Befreiung Israels aus Ägypten an, ist
in der Bibel die Grundlage für das Doppelgebot der Gottes- und
Nächstenliebe. Den Blick für das fremde Leid zu bewahren
ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne der Bibel stellt dabei
kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. Die
Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses
Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit.
4. In der sozialen Sicherung spricht nichts für einen
Systemwechsel, Reformen aber sind unerläßlich.
(14) Die verschiedenen Säulen der sozialen Sicherung sind in
Deutschland über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren als
ein anpassungsfähiges System solidarischer Risikogemeinschaft
aufgebaut worden. Dieses System verdient es, in seiner Grundidee und
seinen Grundelementen erhalten und verteidigt zu werden. Nach wie vor
ist Deutschland eines der reichsten Länder der Erde. Das
Bruttosozialprodukt war noch nie so hoch wie zur Zeit. Die derzeit
diskutierten Alternativ-Modelle stellen keine zukunftsweisenden
Lösungen dar, die langwierige und risikobeladene
Umstellungsverfahren rechtfertigen könnten. Die Hinweise auf die
Verhältnisse in den USA verkennen die unterschiedliche
soziokulturelle Tradition und werfen Fragen der sozialen
Gerechtigkeit auf.
(15) Im Rahmen des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung
sind allerdings, um die finanzielle Stabilität zu
gewährleisten, spürbare Änderungen nötig. Dazu
gehören auch strukturelle Änderungen, durch die die
einzelnen an Verhaltensweisen zu Lasten der Versichertengemeinschaft
gehindert werden. Anspruchsberechtigung und Leistungsverpflichtung
müssen spürbarer aneinander gekoppelt werden. Das
nötigt auch zu Einschnitten bei den sozialen Leistungen. Sie
werden nur im Streit zustande kommen. Dieser Streit hat - neben den
nötigen gesetzgeberischen Entscheidungen - vor allem in der
Auseinandersetzung der Tarifpartner seinen sinnvollen Ort.
(16) Eine beträchtliche Schwäche des gegenwärtigen
Systems sozialer Sicherung liegt in der vorrangigen Bindung an das
Erwerbseinkommen. Das hat schwerwiegende Auswirkungen vor allem auf
die Situation von Frauen, und es steht der Orientierung an einem
umfassenderen Arbeitsverständnis, das nicht auf Erwerbsarbeit
fixiert ist, im Wege. Aber auch in dieser Hinsicht sind langsame
Schritte der Anpassung erfolgversprechender als der große Wurf
einer radikalen Umstellung.
(17) Erhebliche Probleme ergeben sich aus dem Altersaufbau der
Bevölkerung. Deutschland gehört zu den Ländern Europas
mit der geringsten Geburtenziffer. Unter den jüngeren
Generationen hat die Kinderlosigkeit stark zugenommen, die
Gesellschaft polarisiert sich in private Lebensformen mit und ohne
Kinder und gefährdet damit ihre Zukunftsfähigkeit.
(18) Quantitative und qualitative Veränderungen im
Gefüge des Sozialstaats sind sorgfältig zu unterscheiden.
Auch in den 60er und 70er Jahren verdienten die Strukturen in der
Bundesrepublik Deutschland den Namen Sozialstaat. Es ist nicht
ausgemacht, daß unter veränderten Bedingungen alle
Errungenschaften der Vergangenheit in ungeschmälerter Höhe
festgehalten werden können.
5. Die vordringlichste Aufgabe der Wirtschafts- und
Sozialpolitik ist in den nächsten Jahren der Abbau der
Massenarbeitslosigkeit.
(19) Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist ein
gefährlicher Sprengstoff: im Leben der betroffenen Menschen und
Familien, für die besonders belasteten Regionen, vor allem weite
Teile Ostdeutschlands, für den sozialen Frieden. Ohne
Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gibt es auch keine
zuverlässige Konsolidierung des Sozialstaats. Die anhaltend hohe
Arbeitslosigkeit führt zu Einnahmeausfällen bei der
Sozialversicherung und verursacht hohe Kosten vor allem im Rahmen der
Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Insofern ist nicht der
Sozialstaat zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit.
(20) Diese Einsicht darf jedoch nicht davon abhalten, die unter
den Bedingungen fortdauernder Arbeitslosigkeit möglichen
Schritte zu einer Entlastung und Stabilisierung des Systems der
sozialen Sicherung zu tun. Dazu gehört die schrittweise
Herausnahme versicherungsfremder Leistungen aus der
Sozialversicherung. Diese Leistungen können zwar nicht alle
wegfallen und müssen über Steuern finanziert werden. Aber
es geht bei einer solchen Verschiebung darum, die Lohnnebenkosten
spürbar zu senken, alle leistungsfähigen Bürgerinnen
und Bürger an den Aufwendungen für die versicherungsfremden
Leistungen zu beteiligen und nicht länger einseitig die
Arbeitsplätze zu belasten.
(21) Energische und dauerhafte Anstrengungen zum Abbau der
Massenarbeitslosigkeit sind in den nächsten Jahren eine
vorrangige Gemeinschaftsaufgabe. Sie dienen auch einer
gleichberechtigten Teilnahme der Frauen am Erwerbsleben. Bund,
Länder und Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften sowie die
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen hier
zusammenwirken. Patentrezepte gibt es nicht. Es kommt darauf an,
verschiedene Wege zu nutzen. Priorität hat nach wie vor die
Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Dem dient es,
wenn die Arbeitskosten gesenkt werden. Hier tragen die Tarifpartner
eine hohe Verantwortung. Mehr wirtschaftliches Wachstum allein wird
aber auf absehbare Zeit nicht eine hinreichende Zahl an
Arbeitsplätzen schaffen. Deshalb müssen ergänzende
Mittel hinzukommen: vor allem die Teilung von Erwerbsarbeit, wie sie
von vielen Frauen, aber auch von Männern zur besseren
Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewünscht wird, die
Umwandlung jedenfalls eines Teils der geleisteten Überstunden in
reguläre Voll- und Teilzeitarbeitsplätze und das Instrument
der öffentlich geförderten Arbeit, mit dem Arbeit statt
Arbeitslosigkeit finanziert werden kann.
6. Der Sozialstaat dient dem sozialen Ausgleich. Darum belastet
er die Stärkeren zugunsten der Schwächeren.
(22) Der soziale Ausgleich ist ein integraler Bestandteil des
Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Wer das Prinzip einer
begrenzten Korrektur der Einkommensverteilung in Frage stellt, stellt
den Sozialstaat in Frage. Nur ein finanziell leistungsfähiger
Staat kann als Sozialstaat funktionieren. Er braucht die Mittel, um
der Verpflichtung zum sozialen Ausgleich nachkommen zu können.
Bei den sinnvollen Schritten zur Verschlankung" des Staates
darf er nicht ausgehungert" werden und am Ende so sehr
abmagern", daß er seine Aufgabe als Sozialstaat nur noch
unzureichend erfüllen kann.
(23) Der zutreffende Grundsatz, daß Leistung sich im
wirtschaftlichen Bereich lohnen muß, darf nicht dazu
führen, daß die Bezieher hoher Einkommen einseitig von
ihren Beiträgen zum sozialen Ausgleich entlastet werden.
Leistungsfähigkeit für die solidarische Finanzierung des
sozialen Ausgleichs bestimmt sich im übrigen nicht nur nach dem
laufenden Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Wird im
Blick auf das Vermögen die Substanz- und Besitzstandswahrung
für unantastbar erklärt, dann ist die Sozialpflichtigkeit
des Eigentums in einer wichtigen Beziehung drastisch
eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Mehr und mehr breitet sich
das Argument aus, viele Bürgerinnen und Bürger fänden
die Abgabenbelastung zu hoch und darum müsse sie gesenkt werden.
Oder: Wegen der hohen steuerlichen Belastung breite sich
Schwarzarbeit aus, und darum müsse die steuerliche Belastung
reduziert werden. Solche Argumente und Stimmungen müssen von der
Politik ernst genommen werden, doch dürfen sie nicht vorrangiger
Bezugspunkt von Entscheidungen werden. Vielmehr muß das
Gemeinwohl Vorrang haben. Es gebietet angesichts der
Unerträglichkeit der Massenarbeitslosigkeit, die
Möglichkeiten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu
verbessern. In dem Maße, in dem sie dazu beiträgt, ist die
Senkung der Steuer- und Abgabenlasten richtig und notwendig.
(24) Nicht nur Armut, auch Reichtum muß ein Thema der
politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig
häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß
auf der anderen Seite geschont wird. Ohnehin tendiert die
wirtschaftliche Entwicklung dazu, den Anteil der Kapitaleinkommen
gegenüber dem Anteil der Lohneinkommen zu vergrößern.
Um so wichtiger wird das von den Kirchen seit langem vertretene
Postulat einer breiteren Vermögensstreuung. Dafür wurde
eine Reihe von Investivlohnmodellen entwickelt.
(25) Sozialer Ausgleich und soziale Balance sind auch dann
gefordert, wenn die Lasten neu verteilt werden. Veränderungen
und Anpassungen des Sozialstaats dürfen nicht nur und auch nicht
in erster Linie den Geringerverdienenden, den Arbeitslosen und den
Sozialhilfeempfängern zugemutet werden. Das
Gerechtigkeitsempfinden wird empfindlich gestört, wenn nicht zur
gleichen Zeit bei denen Abstriche gemacht werden, die sie ohne Not
verkraften können, und entschiedene Anstrengungen zur
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht unternommen
werden.
7. Der Sozialstaat muß so weiterentwickelt werden,
daß die staatlich gewährleistete Versorgung durch mehr
Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten
gestützt wird. Er bedarf einer ihn tragenden und
ergänzenden Sozialkultur.
(26) Der Sozialstaat bedarf gerade angesichts der
Finanzierungsprobleme der Weiterentwicklung: Eigenverantwortung und
Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten müssen
gestärkt werden. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im
Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel
und hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Ansätze zu einer
neuen Sozialkultur zeichnen sich ab. Sie müssen gefördert
werden. Darum spielen die Familien und neue Formen und Chancen der
Solidarität, etwa in den Netzwerken assoziativer Selbsthilfe, in
den Bürgerbewegungen und Ehrenämtern oder in der
wechselseitigen Nachbarschaftshilfe, im Wort der Kirchen eine
hervorgehobene Rolle. Eine neue Sozialkultur kann und soll nicht das
staatliche System sozialer Sicherung ersetzen, aber sie kann
Leistungen hervorbringen, die man bisher allzu schnell vom Staat
erwartete. Eine entwickelte Sozialkultur trägt auch dazu bei,
Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden, und schafft
so Voraussetzungen für eine menschenwürdigere
Gesellschaft.
(27) Um eben diese Sachverhalte geht es im Begriff der
Subsidiarität. Treffend ist Subsidiarität mit Vorfahrt
für Eigenverantwortung übersetzt worden. Dazu zählt
auch mehr betrieblicher Gestaltungsspielraum bei der
Arbeitszeitregelung und beim Lohnabschluß. Es darf nicht zu
viel verbindlich für alle vereinbart werden. Die unteren Ebenen
sind den betroffenen Menschen näher und können zu
sachgerechteren und menschengerechteren Lösungen kommen.
Subsidiarität ist nach seinem ursprünglichen Sinn ein
Prinzip, das die Einzelperson und die kleinen und mittleren Einheiten
davor schützt, daß ihnen entzogen wird, was sie aus
eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten können.
Ein anderer Akzent wird hingegen dort gesetzt, wo unter Berufung auf
das Subsidiaritätsprinzip Aufgaben nach unten abgegeben und dann
ehrenamtliche Leistungen eingefordert und Risiken sowie Kosten auf
den einzelnen übertragen werden. Bei der Subsidiarität geht
es darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten
gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und zu unterstützen,
nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken zuzuschieben.
Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und
Sozialstaat gehören insofern zusammen. Subsidiarität
heißt: zur Eigenverantwortung befähigen,
Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner
sozialen Sicherung allein lassen.
8. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse im Westen und
im Osten Deutschlands wird noch für lange Zeit spürbar
bleiben. Das Geschenk der Einheit muß wirtschaftlich und sozial
mit Leben erfüllt werden.
(28) Die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands hat sich nach
dem tiefen Einbruch von 1990/91 bemerkenswert verbessert. Dennoch ist
die unterschiedliche ökonomische Situation in den neuen
Bundesländern gegenüber der Situation in den alten
Bundesländern alltäglich erfahrbar. Den Menschen im Osten
Deutschlands, insbesondere vielen Frauen, die die Hauptlast der
Beschäftigungskrise zu tragen haben, sind durch die Vereinigung
schmerzliche Anpassungsprozesse abverlangt worden. Sie halten weiter
an.
(29) Für Westdeutsche ist es eine jahrzehntelange Erfahrung:
Freiheit hat ihren Preis; sie kann mißbraucht werden. Für
viele Ostdeutsche mischte sich in die Freude über die
neugewonnene Freiheit das Erschrecken über die Auflösung
sozialer Bindungen und die Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung
eigensüchtiger Interessen. Der Preis für den Auszug aus der
beherrschenden, aber auch betreuenden Diktatur der DDR war
insbesondere ein Verlust an Sicherheitsgefühl und staatlich
geplanter Fürsorge.
(30) Die ökonomischen Leistungen, die den Westdeutschen
für den Aufbau der wirtschaftlichen Verhältnisse in den
neuen Bundesländern für längere Zeit abverlangt
werden, sind unübersehbar. Es handelt sich um einen Teil der
Kriegsfolgelast Deutschlands. Die Opfer der Solidarität, die im
übrigen auch von den Menschen in den neuen Bundesländern
erbracht werden, sind vollauf gerechtfertigt. Die Bereitschaft, die
erforderlichen Lasten zu tragen, ist auch Grund zum Dank. Stimmen,
die auf einen raschen Abbau dieser Leistungen drängen, sollte
nicht nachgegeben werden.
(31) Die Unterschiede der realen Lebensverhältnisse sind eine
Folge der getrennten Entwicklung in unterschiedlichen Systemen. Ihre
Überwindung gehört zu den Aufgaben der erneuerten Einheit
der Deutschen. Sollte es in dem reichen Deutschland nicht gelingen,
das West-Ost-Gefälle auszugleichen und die
Lebensverhältnisse einander anzunähern - wie sollte man
noch die Hoffnung bewahren, daß im Blick auf die weit
auseinanderklaffenden Lebensverhältnisse in Europa und
darüber hinaus ein größeres Maß an sozialer
Gerechtigkeit geschaffen werden kann? Dabei geht es nicht einfach
darum, den Osten im Produktions-, Konsum- und Infrastrukturniveau auf
Weststandard" zu bringen. Um den Erfordernissen einer
zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen, müssen sich im
Prozeß des weiteren Zusammenwachsens beide Teile Deutschlands
verändern.
9. Die Menschen teilen die Welt mit den anderen Geschöpfen
Gottes. Deutschland lebt in der Welt zusammen mit anderen
Ländern. Solidarität und Gerechtigkeit sind
unteilbar.
(32) Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung
ist die Erhaltung der natürlichen Grundlagen des Lebens. Kein
Land der Erde wird auf lange Sicht dadurch reicher, daß es
diese Grundlagen zerstört. Als Verteilungsregel sollte daher
gelten: Recht und Billigkeit der Ressourcennutzung müssen sowohl
unter der jetzt lebenden Weltbevölkerung als auch im Ablauf der
Generationen gewährleistet sein. Um die Tragekapazität der
ökologischen Systeme nicht zu überschreiten, können
der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen und nur so viele Rest-
und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie ohne Schaden
aufzunehmen vermag. Diese Kriterien der Nachhaltigkeit nötigen
dazu, den ökologischen Strukturwandel voranzubringen. Er setzt
Änderungen des Lebensstils voraus, und er zieht solche
Änderungen nach sich. Die Kirchen tragen dazu bei, eine Politik
des ökologischen Strukturwandels möglich zu machen, wenn
sie den biblischen Gedanken der Umkehr auf Änderungen des
Lebensstils hin auslegen und an der Gleichsetzung von gut
leben" und viel haben" Kritik üben.
(33) Die Kirche hat eine Botschaft an alle Menschen. Für sie
kann der Horizont von Solidarität und Gerechtigkeit über
Deutschland und Europa hinaus nur ein weltweiter sein. Das ist von
besonderer Aktualität zu einem Zeitpunkt, an dem die
Weltwirtschaft von Globalisierungsschüben erfaßt ist.
Diese Globalisierung ereignet sich jedoch nicht wie eine Naturgewalt,
sondern muß im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik
gestaltet werden. Sie kann zahlreichen wirtschaftlich wenig
entwickelten Ländern neue Chancen geben. Die Chancen bestehen
freilich nur so lange, wie die reichen Länder bereit sind, ihre
Märkte offenzuhalten und weiter zu öffnen. Das verlangt den
Menschen in Deutschland Umstellungen ab und ist für manche
Wirtschaftszweige mit Einbußen verbunden. Die Kirchen treten in
dieser Situation dafür ein, auch eine solche Entwicklung zu
bejahen und zu fördern. Man kann nicht zuerst nach Chancen
wirtschaftlicher Entwicklung für die ärmeren Länder
rufen, aber dann zurückzucken, wenn es einen selbst etwas
kostet. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ärmeren
Länder zu fördern, ist zudem nicht nur ein Gebot weltweiter
Solidarität und Gerechtigkeit, es ist auch ein Gebot des
Selbstinteresses: Es ist unerläßlich, um die
Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist Teil einer vorausschauenden
Friedenspolitik.
10. Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage
in Deutschland ist kein letztes Wort.
(34) Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die
Deutsche Bischofskonferenz verantworten das vorgelegte Wort. Sie
haben in der Vorbereitung die Beiträge des
Konsultationsprozesses sorgfältig ausgewertet, auf
unterschiedliche Stimmen aufmerksam gehört und die dabei geltend
gemachten Argumente abgewogen. Das Wort, das daraus entstanden ist,
kann der Natur der Sache nach keine abschließende Stellungnahme
sein. Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz laden zur kritischen
Auseinandersetzung ein. Das Wort ist Teil in dem weitergehenden
öffentlichen Gespräch, welchen vorrangigen Zielen das
wirtschaftliche und soziale Handeln verpflichtet sein muß und
auf welchen Wegen diese Ziele am besten zu erreichen sind.
1. Der Konsultationsprozeß
1.1 Zeit des Wandels und der
Erneuerung
(35) An der Schwelle eines neuen Jahrtausends befinden sich nicht
nur Deutschland und Europa, sondern alle Industrie- und
Entwicklungsländer in einer Phase ebenso rascher wie
tiefgreifender Veränderungen und Umbrüche. Durch die
deutsche Einigung, den europäischen Integrationsprozeß,
das Ende des mit der Nachkriegsordnung verbundenen
Ost-West-Konflikts, das Tempo des technischen Fortschritts und den
Ausbau der modernen Informations-, Kommunikations- und
Verkehrstechnologien ergeben sich Entwicklungen, deren Wirkungen im
einzelnen noch nicht absehbar sind. Die internationalen
Verflechtungen nehmen zu, die weltweite Integration der Märkte
ebenso wie der weltwirtschaftliche Austausch von Gütern, Kapital
und Dienstleistungen schreiten voran, der Wettbewerb verschärft
sich. Hinzu kommen demographische und soziale Verschiebungen, die mit
den weltweiten Wanderungsbewegungen, der Alterung der
Industriegesellschaften, der Individualisierung der Lebensformen und
der Differenzierung der Lebensstile einhergehen. All das nötigt
zu kontinuierlichen und zum Teil einschneidenden
Anpassungsprozessen.
(36) Die vielfältigen Veränderungen und Umbrüche
wirken sich in unterschiedlicher Form und Intensität auf nahezu
alle Lebensbereiche aus. Sie sind verbunden mit Zukunftschancen,
haben zugleich aber auch zu Problemen und Erschwernissen für
viele Menschen geführt. Sie machen es nötig, bisherige
Gewohnheiten, Überzeugungen und scheinbare
Selbstverständlichkeiten auf ihre Tragfähigkeit zu
prüfen, und dies auf deutscher, europäischer und globaler
Ebene. Das vereinigte, aber noch längst nicht zusammengewachsene
Deutschland steht vor der Frage, wie bei der notwendigen Angleichung
der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost die sozial und
ökologisch verpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung
weiterentwickelt werden kann, welche Reformen nötig sind, um die
anhaltende Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und das System
der sozialstaatlichen Sicherung zu bewahren, und inwieweit ein
grundsätzliches Umdenken und Umsteuern erforderlich ist, um die
Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Auf europäischer
Ebene stellt sich die Aufgabe, die wirtschaftliche Integration durch
die Währungsunion, eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik
sowie Außen- und Sicherheitspolitik zu vertiefen und das
Einigungswerk mit einer politischen Union zu vollenden. Gleichzeitig
müssen sich Idee und Praxis der Friedenssicherung durch
politische Integration, die in den vergangenen 40 Jahren in
Westeuropa entwickelt wurden, auch in Mittel- und Osteuropa
bewähren. Dies schließt die Bereitschaft ein, mittel- und
osteuropäische Länder bei den schwierigen
Transformationsprozessen in eine freiheitliche Demokratie und
marktwirtschaftliche Ordnung nach Kräften zu unterstützen.
Auf der globalen Ebene geht es schließlich darum, in
gemeinsamer Verantwortung und Partnerschaft eine solidarische,
gerechte und darum tragfähige Ordnung zu schaffen, die geeignet
ist, die im Gang befindlichen und absehbaren Veränderungen zum
Nutzen aller zu gestalten und eine nachhaltige, d. h.
zukunftsfähige Entwicklung nicht zuletzt der armen Länder
zu ermöglichen.
1.2 Anlage und Verlauf des
Konsultationsprozesses
(37) Die Kirchen sehen es als ihre Aufgabe an, Mitverantwortung
für eine menschengerechte und sachgerechte Ordnung der
öffentlichen Angelegenheiten wahrzunehmen und dabei besonders
für die Belange der Armen, der Schwachen und Benachteiligten
einzutreten. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich darum in der
gegenwärtigen Umbruchsituation entschlossen, ein gemeinsames
Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage vorzubereiten und dazu
einen breiten Diskussionsprozeß über die Grundbedingungen
des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders
anzustoßen. Sie sehen darin auch einen Dienst für die
Gesellschaft.
(38) Dieser Konsultationsprozeß wurde am 22. November 1994
mit der Veröffentlichung einer Diskussionsgrundlage eingeleitet
1. Damit verband sich die Einladung zum Dialog: einem Dialog sowohl
innerhalb der Kirchen als auch mit Politik, Wirtschaft,
Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, um Rat der EKD und
Deutsche Bischofskonferenz bei der Vorbereitung des von ihnen zu
verantwortenden Wortes zu beraten und im Austausch von Erfahrungen
und Argumenten den gesellschaftlichen Grundkonsens zu verbreitern.
Über die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz hinaus haben
weitere Kirchen am Konsultationsprozeß mitgewirkt. Die
Diskussionsgrundlage wurde in einer Auflage von über 400.000
Exemplaren verbreitet. In den Kirchen selbst, in Parteien,
Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, vor allem auch zwischen
kirchlichen und gesellschaftlichen Vertreterinnen und Vertretern fand
eine große Zahl von Begegnungen und Veranstaltungen statt. Auf
einem zentralen Wissenschaftlichen Forum am 12. September 1995 wurde
der Rat ausgewählter Fachleute eingeholt 2. Abgeschlossen wurde
der Konsultationsprozeß in einer zusammenfassenden
Veranstaltung am 9./10. Februar 1996 in Berlin 3. Im Verlauf des
Konsultationsprozesses wurden insgesamt rund 2.500 Stellungnahmen mit
einem Umfang von über 25.000 Seiten eingereicht 4.
(39) Die Diskussionsgrundlage hatte den Charakter eines
Impulspapiers, das den Konsultationsprozeß in Gang setzen und
inhaltlich umreißen sollte. Dem ist es voll gerecht geworden.
Von Anfang an war klar ausgesprochen worden: Die
Diskussionsgrundlage will und kann nicht das vorgesehene gemeinsame
Wort vorwegnehmen. Dieses soll vielmehr erst nach Abschluß des
Konsultationsprozesses und unter Berücksichtigung seiner
Ergebnisse in der Verantwortung des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz entstehen." 5
Im Laufe des Jahres 1996 haben ein Beraterkreis und eine
Redaktionsgruppe, die von den beiden kirchlichen Leitungsgremien
berufen worden waren, wichtige Vorarbeiten geleistet für die
Vorbereitung, Beratung und schließlich die Verabschiedung des
gemeinsamen Wortes durch den Rat der EKD und die Deutsche
Bischofskonferenz. 6
1.3 Ergebnisse und Wirkungen des
Konsultationsprozesses
(40) Mit dem Konsultationsprozeß haben die Kirchen Neuland
betreten. Er war für alle Beteiligten ein Lernprozeß. Das
Experiment ist insgesamt gelungen. Das Verfahren des
Konsultationsprozesses bot vorzügliche Möglichkeiten, dem
berechtigten Interesse an einer breiteren innerkirchlichen
Beteiligung an der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der
Kirchen Rechnung zu tragen. Zugleich verstärkte dieses Verfahren
den Dialog von Kirche und Gesellschaft auf allen Ebenen.
(41) Der Konsultationsprozeß hat zahlreiche wichtige
inhaltliche Beiträge und Einsichten gebracht. Er hat erkennen
lassen, was den meisten in der gegenwärtigen Lage unter den
Nägeln brennt und welche vorrangigen Handlungsziele und
-möglichkeiten sie sehen. Unter anderem sind hier zu nennen:
- Gegenüber der Massenarbeitslosigkeit darf es keine
Resignation geben. Massenarbeitslosigkeit ist kein unabwendbares
Verhängnis. Es gibt Möglichkeiten, sie abzubauen.
- Eine allgemeine soziale Sicherung, die allen Bürgerinnen
und Bürgern eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die
gerechte Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern
garantiert, ist für die Gesellschaft konstitutiv. Die Systeme
der sozialen Sicherung in Deutschland bieten die Voraussetzung,
einer veränderten Lage gerecht und ihr angepaßt zu
werden, wie dies auch in der Vergangenheit in vergleichbarer
Situation möglich war.
- Nur was die Lage der Schwächeren bessert, hat Bestand.
Bei allen grundlegenden Entscheidungen müssen die Folgen
für die Lebenssituation der Armen, Schwachen und
Benachteiligten bedacht werden. Diese haben ein Anrecht auf ein
selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
und an den gesellschaftlichen Chancen sowie auf Lebensbedingungen,
die ihre Würde achten und schützen.
- Es muß intensiver über die Lebenssituation der
Familie, der Frauen, der Kinder, der Jugendlichen und über
die Wahrung ihrer Belange nachgedacht werden.
- Die innere Einheit in Deutschland ist mehr als einfach nur
eine Angleichung der Lebensverhältnisse des Ostens an die des
Westens. Beide Teile müssen sich im Prozeß des
Zusammenwachsens deutlich umorientieren.
Der Konsultationsprozeß hat aber, gemessen an dem
quantitativen Umfang, der den einzelnen Themen in den Stellungnahmen
gewidmet ist, auch erkennen lassen, daß die großen
Zukunftsaufgaben - die Bewahrung der natürlichen Grundlagen des
Lebens, die Veränderung des vorherrschenden Wohlstandsmodells,
die europäische Einigung und die Herstellung von mehr
internationaler Gerechtigkeit - gegenüber den bedrängenden
sozialen Problemen vor der eigenen Haustür in den Hintergrund
treten. Alle diese Befunde mußten bei der Vorbereitung des hier
vorgelegten Wortes sorgfältig bedacht und gewürdigt werden,
ohne daß damit schon über die Schwerpunkte und
inhaltlichen Akzente des Wortes entschieden war. Der
Konsultationsprozeß umfaßt die ganze Bandbreite der in
Kirche und Gesellschaft vertretenen Auffassungen zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage. Er kann von seiner Natur und Anlage her die
inhaltlichen Entscheidungen über das Wort zur wirtschaftlichen
und sozialen Lage nicht vorwegnehmen. Worin liegt dann aber sein
Sinn? Fünf Aspekte sind hier vor allem zu nennen:
(42) Erstens: Der Konsultationsprozeß hat die inhaltliche
Vorbereitung des Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in
hohem Maße bereichert. Rat der EKD und Deutsche
Bischofskonferenz können und wollen sich zu wirtschaftlichen und
sozialen Fragen nicht äußern, ohne sich eingehend beraten
zu lassen. Dies geschieht bisher weitgehend so, daß
Kommissionen aus Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen ihnen
zuarbeiten. Diese bewährte Form der Erarbeitung kirchlicher
Äußerungen wird auch in Zukunft beibehalten werden und
bestimmend bleiben. Das Verfahren des Konsultationsprozesses
verbreitert und vertieft die Meinungsbildung und
Entscheidungsfindung. Maßgebend kann und darf nicht nur der Rat
von Wissenschaftlern und Experten sein, sondern es hat eine
eigenständige Bedeutung, den weiten Kreis der Akteure und
Betroffenen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu hören.
Der Vergleich zwischen der Diskussionsgrundlage und dem hier
vorgelegten Wort zeigt, welche Einsichten und Anregungen der
Konsultationsprozeß erbracht hat. Von besonderem Gewicht ist
die Einführung eines eigenen Abschnitts, der sich den
Herausforderungen für die Kirchen selbst widmet. Die Kirchen -
so hatten viele Beiträge im Konsultationsprozeß gemahnt -
können sich nicht zu Maßstäben für das
wirtschaftliche und soziale Handeln äußern, ohne ihr
eigenes Handeln auf diesen Gebieten an denselben Maßstäben
zu messen. Insbesondere von Frauen ist auf den Mangel aufmerksam
gemacht worden, daß die Diskussionsgrundlage weithin die
besondere Situation der Frauen unberücksichtigt gelassen habe.
Dem war Rechnung zu tragen.
(43) Zweitens: Der Konsultationsprozeß kann den politischen
Handlungsspielraum erweitern. In einer Demokratie sind die
Handlungsspielräume der Politik abhängig von Einstellungen
und Verhaltensweisen der Wählerinnen und Wähler. Der
Konsultationsprozeß ist dafür nicht ohne Bedeutung. Er ist
ein Beitrag zu Bewußtseinsbildung und sozialem Lernen. Wenn -
wie es im Konsultationsprozeß geschehen ist - Menschen nicht
mit einem fertigen Ergebnis konfrontiert werden, das sie nur noch
akzeptieren oder ablehnen können, sondern selbst in die
Überlegungen und Abwägungen einbezogen sind, geschehen
Bewußtseinsbildung und Lernen intensiver. Solche Prozesse haben
mit dem politischen Handeln viel mehr zu tun, als auf den ersten
Blick erkennbar ist. Die Politikerschelte, die angesichts von
Mißständen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens
üblich ist, greift nämlich zu kurz. Handlungsfähigkeit
und Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie
entscheidend durch Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger
bestimmt. Der Konsultationsprozeß ist deshalb um so
erfolgreicher, je mehr es ihm gelingt, Einstellungen und
Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen
Spielräume zu erweitern - und umgekehrt um so folgenloser, je
weniger ihm dies gelingt.
(44) Drittens: Der Konsultationsprozeß bietet einen Rahmen,
in dem der gesellschaftliche Grundkonsens gebildet, gestärkt und
verbreitert wird. Die mit der Veröffentlichung der
Diskussionsgrundlage verbundene Einladung zu einem öffentlichen
Dialog ist auf eine ungemein breite Zustimmung gestoßen. Die
Diskussionsgrundlage war Impuls oder Plattform für zahlreiche
Gespräche: zwischen den Kirchen und den Parteien und
gesellschaftlichen Gruppen, innerhalb der Kirchen und der
gesellschaftlichen Gruppen, zwischen den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, auf der örtlichen Ebene wie auf der
Ebene von Leitungsgremien. Damit diente der Konsultationsprozeß
der Bildung, Stärkung und Verbreiterung des gesellschaftlichen
Grundkonsenses. Polemik gegen die Konsenskultur ist kurzsichtig.
Konsens meint keineswegs die Abwesenheit oder den Ausschluß von
Konflikten. Aber Konflikte lassen sich gemeinwohlverträglich
eher austragen, Kompromisse als Ausgleich zwischen unterschiedlich
oder gegensätzlich bleibenden Interessen lassen sich leichter
erreichen, wenn die Konfliktpartner auf dem Boden eines gemeinsamen
Grundkonsenses stehen.
(45) Viertens: Der Konsultationsprozeß hat auf der
persönlichen und lokalen Ebene praktische Veränderungen
bewirkt und die Netzwerke solidarischer Hilfe gestärkt. Der
Dialog hat bei vielen Beteiligten kleine und große
Veränderungen bewirkt, Lernprozesse in Gang gesetzt und
scheinbar unverrückbare Fronten bewegt. Die Verknüpfungen
der verschiedenen Probleme wurden entdeckt, größere
Zusammenhänge erkannt. Vorurteile wurden in Frage gestellt,
Argumente, die bisher in den Wind geschlagen worden waren, wurden
aufmerksam gehört. Im Verlauf des Konsultationsprozesses ist
beispielsweise ein hohes Maß an Solidarität und
Anteilnahme mit dem Schicksal von Arbeitslosen zutage getreten. Es
haben sich Initiativen und Gruppen gebildet, die einen wirksamen
Beitrag der praktischen Unterstützung und Solidarität
leisten wollen, und es ist eine Vielzahl konkreter, auch
unkonventioneller Maßnahmen der Hilfe und Unterstützung
bis hin zu persönlichen materiellen Verzichtsleistungen in Gang
gekommen.
(46) Fünftens: Die Kirchen haben im Konsultationsprozeß
gelernt. Es gibt innerhalb der Kirchen zwar eine hohe
Sensibilität für ihren Dienst an der Gesellschaft und eine
Fülle beeindruckender Aktivitäten, aber auch nicht wenige
Gemeinden und Christen, die in besorgniserregender Weise
selbstbezogen sind und den Vorgängen in der Gesellschaft zu
wenig Aufmerksamkeit schenken. Daß das Eintreten für
Solidarität und Gerechtigkeit unabdingbar zur Bezeugung des
Evangeliums gehört und im Gottesdienst nicht nur der Choral,
sondern auch der Schrei der Armen seinen Platz haben muß,
daß Mystik", also Gottesbegegnung, und Politik",
also der Dienst an der Gesellschaft, für Christen nicht zu
trennen sind - das alles ist im Konsultationsprozeß
nachdrücklich hervorgetreten. Eine wertvolle Erfahrung war nicht
zuletzt die erneute Bestätigung, daß ein gemeinsames
sozialethisches Sprechen und Handeln der Kirchen möglich, aber
auch notwendig ist.
(47) Insgesamt wird deutlich: Der Konsultationsprozeß darf
nicht allein an dem Wort gemessen werden, das jetzt vorgelegt wird.
Im Vorwort zur Diskussionsgrundlage stehen die Sätze: In
gewisser Weise gilt: Der Weg ist das Ziel. Schon das gemeinsame
engagierte Gespräch, das ernsthafte gemeinsame Nachdenken, die
vielen Versuche, Lösungen zu finden, machen diesen
Konsultationsprozeß wertvoll und geben ihm eine
eigenständige Bedeutung neben dem endgültigen Ergebnis."
Damit war niemals gemeint, der Weg könne und dürfe das Ziel
eines gemeinsamen Wortes überflüssig machen. Aber auch und
gerade im Rückblick bleibt es dabei: Die im Laufe des
Konsultationsprozesses erzielten Ergebnisse, Wirkungen und
Nebenwirkungen haben eine eigenständige Bedeutung neben dem von
Rat der EKD und Deutscher Bischofskonferenz verantworteten
gemeinsamen Wort.
2. Gesellschaft im Umbruch
(48) Die Entwicklung in den meisten westeuropäischen
Ländern war nach dem Zweiten Weltkrieg durch den politischen
Willen geprägt, den wirtschaftlichen Fortschritt mit einem
sozialen Ausgleich zu verbinden. Diese sozialstaatliche Tradition,
die ins 19. Jahrhundert zurückreicht, fand in der Bundesrepublik
Deutschland ihre Ausprägung im Leitbild der Sozialen
Marktwirtschaft. Inzwischen steht Deutschland mit vielen anderen
Ländern vor neuen, zum Teil weltweiten Herausforderungen:
Rationalisierungsprozesse, der europäische
Integrationsprozeß und vor allem die Internationalisierung der
Güter- und Kapitalmärkte gehen mit einem einschneidenden
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel einher und wirken sich
nicht zuletzt nachhaltig auf den Arbeitsmarkt aus. Die
ökologischen Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung fordern
Veränderungen, die nicht mehr länger aufgeschoben werden
können. Die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit und die mit
ihr verbundenen Probleme des Sozialstaates gefährden den
solidarischen Zusammenhalt und bedrohen den sozialen Frieden.
2.1 Lang anhaltende
Massenarbeitslosigkeit
(49) In Deutschland und in den anderen Mitgliedsstaaten der EU
stellt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die drängendste
politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Die
katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die
betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat
hinnehmbar. Auch im Konsultationsprozeß gehörte die
Arbeitslosigkeit zu den Themenbereichen, die in den Eingaben die
größte Beachtung fanden. In den Stellungnahmen werden die
Parteien und Gebietskörperschaften, die Tarifpartner und die
Verantwortlichen der Finanzpolitik sowie alle Träger
beschäftigungspolitischer Maßnahmen nachdrücklich
aufgefordert, ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Abbau der
Arbeitslosigkeit zu leisten.
2.1.1 Belastungen durch
Arbeitslosigkeit
(50) Bereits vor mehr als 20 Jahren überschritt die Zahl der
in Westdeutschland registrierten Arbeitslosen erstmals wieder seit
Anfang der 50er Jahre die Millionengrenze. Seitdem hat sich die
Arbeitslosigkeit strukturell verfestigt und die Anzahl derer, die
selbst zu Zeiten konjunktureller Belebung keine Stelle finden, ist
stetig gewachsen. In West- und Ostdeutschland zusammen waren im
Januar 1997 4,6 Millionen Frauen und Männer als arbeitslos
gemeldet; in den Ländern der EU waren es Ende Dezember 1996 etwa
18,1 Millionen. Nicht eingerechnet sind dabei die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die an Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen
teilnehmen, in Kurzarbeit oder im Rahmen von
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt sind, im
vorgezogenen Ruhestand leben oder sich resignierend
zurückgezogen haben. Eine besondere
beschäftigungspolitische Herausforderung stellt die
Jugendarbeitslosigkeit dar. Eine wachsende Zahl von Jugendlichen,
insbesondere von jungen Frauen, läuft Gefahr, niemals in das
Beschäftigungssystem integriert zu werden.
(51) Die westdeutsche Gesellschaft ist wohlhabend, ihre Wirtschaft
gehört zu den erfolgreichsten der Welt; dennoch weist sie seit
Jahrzehnten eine steigende Arbeitslosigkeit auf. Die Vorstellungen
über Erwerbsarbeit sind zwar immer noch weitgehend an dem
herkömmlichen Leitbild industrieller Arbeit orientiert.
Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse im industriellen
Bereich verlieren gegenüber dem Dienstleistungssektor jedoch an
Gewicht und Bedeutung. Zugleich nehmen die sogenannte
geringfügige Beschäftigung und die
Scheinselbständigkeit zu. Diese Umbrüche in den
Beschäftigungsverhältnissen rühren an Grundstrukturen
einer Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit für das geregelte
Einkommen, die soziale Integration und die Möglichkeiten der
Persönlichkeitsentwicklung zentral ist.
(52) Obwohl die Arbeitslosigkeit ein gesamtwirtschaftliches
Problem darstellt, ist das Vorurteil weit verbreitet, sie beruhe auf
individuellem Versagen. Viele Arbeitslose beziehen solche
Schuldzuweisungen auf sich, ziehen sich aus Scham zurück und
fühlen sich vielfach ausgegrenzt. Sie vermissen die Chance,
ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, Kontakte zu
pflegen, sich weiter zu qualifizieren und am gesellschaftlichen Leben
verantwortlich zu beteiligen.
(53) Die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit verschärft
die Auswahl- und Verdrängungsprozesse des Arbeitsmarktes: Sind
Personengruppen bestimmten Leistungsanforderungen nicht gewachsen, so
finden sie, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, nur noch sehr
schwer eine Anstellung. So fühlen sich Hunderttausende
Langzeitarbeitslose nicht mehr gefragt. Arbeitslose, die längere
Zeit keine Arbeit finden, werden schließlich in vielen
Fällen unfähig, Arbeit zu suchen, und werden zu Menschen
ohne Erwartungen. Verbitterung und Resignation zerstören das
Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft.
Perspektivlosigkeit und Angst vor dem sozialen Abstieg sind ein
Nährboden für Gewaltbereitschaft und
Fremdenfeindlichkeit.
(54) Seit den 80er Jahren konzentriert sich die
Langzeitarbeitslosigkeit zunehmend auf die Gruppe der Älteren.
Etwa zwei Drittel der registrierten Langzeitarbeitslosen sind
über 45 Jahre alt. In einer besonders schwierigen Situation sind
alleinerziehende Frauen. Häufig haben sie aufgrund ihrer
besonders belastenden Lebenssituation keine Chance, einen
Arbeitsplatz zu bekommen und damit ein eigenes Einkommen zu erzielen.
Sie werden von der Sozialhilfe abhängig und sind kaum in der
Lage, soziale Kontakte außerhalb der Kindererziehung
aufzunehmen.
(55) Aufgrund der traditionellen Arbeitsteilung zwischen
Männern und Frauen sind es vor allem die Frauen, die Arbeit in
Familie und Ehrenamt übernommen haben. Nimmt man ihren Anteil an
der Erwerbsarbeit hinzu, so werden etwa zwei Drittel der
gesellschaftlich anfallenden Arbeit von Frauen geleistet. Weil Frauen
immer noch den größten Teil der familiären Arbeit
leisten, werden sie häufig noch zusätzlich bei den
Einstellungsentscheidungen benachteiligt. Deshalb haben sie an der
Erwerbsarbeit nicht in dem Maße teil, wie es ihrer Ausbildung
und Qualifikation entspräche.
2.1.2 Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern
(56) Besonders belastend ist die Massenarbeitslosigkeit in den
neuen Bundesländern. Sie ist hier in einem Tempo und Umfang
gestiegen, wie es in den alten Bundesländern weithin ohne
Beispiel ist. Durch den Zusammenbruch der sozialistischen
Planwirtschaft, die abrupte Einführung marktwirtschaftlicher
Verhältnisse ohne hinreichende strukturpolitische Begleitung,
die mit der Währungsunion verbundene Aufwertung und den Verlust
der bisherigen östlichen Märkte sind ganze Industriezweige
weggebrochen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten
mußten ihre Betriebe verlassen und sich um neue
Arbeitsplätze bemühen.
(57) In den ersten 4 Jahren nach 1989 sank die Zahl der
Erwerbstätigen von 10 Millionen auf etwa 6 Millionen. Ende 1996
lag die Arbeitslosenquote über 15 %. Mehr als ein Drittel
der Arbeitslosen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Eine
weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit ist zu befürchten, wenn es
nicht zu grundlegenden Änderungen kommt.
(58) Ein besonderes Problem der Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern ist die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Während in der DDR über 90 % der Frauen im
erwerbsfähigen Alter berufstätig waren, wurden gerade sie
nach der Wende verstärkt vom Arbeitsmarkt verdrängt. Viele
von ihnen haben auf Dauer keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. So
sind mehr als 75 % der ostdeutschen Langzeitarbeitslosen Frauen,
häufig gut qualifizierte jüngere Frauen. Sie haben die
Hauptlast der Beschäftigungskrise zu tragen.
(59) Die ostdeutschen Eingaben im Rahmen des
Konsultationsprozesses haben gezeigt, daß sich viele
Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer trotz
der umfangreichen westdeutschen Hilfe im Stich gelassen fühlen.
Weil zu DDR-Zeiten die Erwerbsarbeit weit mehr als im Westen die
Funktion hatte, die Menschen in das soziale Gefüge eines
Betriebs zu integrieren, wird nunmehr die Arbeitslosigkeit
stärker als ein Verlust von sozialen Bindungen und
Möglichkeiten der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben
erfahren. Auch die Sozialleistungen der westdeutschen
Sicherungssysteme, die in der Gesamtsumme beeindruckend sind, konnten
nicht verhindern, daß viele Ostdeutsche heute eine höhere
Unsicherheit ihrer materiellen Lebensgrundlagen und ihres sozialen
Status empfinden. Die Arbeitslosigkeit hat über Jahrzehnte
erworbene Arbeitserfahrungen und berufliche Qualifikationen
entwertet. Bei den Menschen in den neuen Bundesländern
verfestigt sich der Eindruck, daß sie von vielen Westdeutschen
wegen ihrer Vergangenheit falsch eingeschätzt werden. Ein
großer Teil der Westdeutschen, so machen sie geltend, habe
keine rechte Vorstellung von ihren Nöten.
2.1.3 Ursachen der Arbeitslosigkeit
(60) Die Ursachen der seit 1973 trendmäßig zunehmenden
strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland sind vielfältig
und in der politischen Öffentlichkeit wie in der
wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion umstritten. Entsprechend
gingen auch die Meinungen im Verlauf des Konsultationsprozesses
auseinander. Eines ist jedoch gewiß: Arbeitslosigkeit kann
nicht monokausal erklärt werden.
(61) In den letzten Jahren hat sich das wirtschaftliche Wachstum
deutlich verlangsamt. Die wirtschaftlichen Wachstumskräfte
allein reichen offensichtlich nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit
nachhaltig abzubauen. Es ist zwar gelungen, die Zahl der
Arbeitsplätze von Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre
deutlich zu erhöhen, dies genügte aber nicht, um eine
weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das lag daran,
daß in den vergangenen Jahren weitaus mehr Menschen
zusätzlich Erwerbsarbeit nachgefragt haben und sich dadurch das
Arbeitskräfteangebot wesentlich erhöht hat. Seit einigen
Jahren ist ein erheblicher Abbau von Arbeitsplätzen zu
verzeichnen, der sich in letzter Zeit weiter beschleunigt hat.
(62) Hinzu kommt, daß der strukturelle Wandel im
industriellen Bereich im Zuge des technischen Fortschritts mit einer
enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität einherging, ohne
daß der Beschäftigungsrückgang im gleichen Maße
durch eine Verringerung der Arbeitszeit oder die Ausweitung der
Produktion kompensiert worden wäre. Der
Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor hat nicht
ausgereicht, den Verlust von Arbeitsplätzen im industriellen
Bereich auszugleichen.
(63) Eine der Hauptursachen der hohen Arbeitslosigkeit in
Deutschland wird nach einer verbreiteten Auffassung in den
weltpolitischen Änderungen und der Globalisierung der Wirtschaft
und des Wettbewerbs gesehen, die weitreichende Anpassungen in der
internationalen Arbeitsteilung ausgelöst und dazu geführt
hätten, daß sich auch die deutschen Unternehmen einem
zweifellos härter gewordenen weltweiten Wettbewerb stellen
müssen. Sie sähen sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit
wesentlich eingeschränkt, insbesondere durch die hohen
Lohnkosten, kurze Arbeitszeiten und das Ausmaß der Abgaben- und
Steuerbelastung. Weitere Beeinträchtigungen ergäben sich
aus subventionsbedingten Wettbewerbsverzerrungen, hohen
Energiepreisen, einer hohen Bürokratisierung und Regulierung,
Ressentiments gegen bestimmte neue Technologien, fehlendem
Risikokapital und Währungsschwankungen. Das Problem zeige sich
auch daran, daß deutsche Unternehmen zunehmend ihre Produktion
in das Ausland verlagern, während ausländische
Direktinvestitionen in Deutschland zurückgehen.
(64) Andere hingegen sehen dies anders. Sie verweisen darauf,
daß die Arbeitsmarktkrise keine Besonderheit der deutschen
Wirtschaft sei. Alle entwickelten Industrieländer seien durch
dauerhafte Wachstumsverlangsamung und langfristig hohe
Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die internationale
Wettbewerbsfähigkeit (West-)Deutschlands sei zugleich
außerordentlich hoch. Kein anderes Land exportiere einen so
hohen Anteil seiner Produktion. Die Handelsbilanzen mit den
südostasiatischen Schwellenländern und den
osteuropäischen Reformstaaten seien ausgeglichen, weil diese
Länder jede durch Exporte nach Deutschland verdiente Mark wieder
für Importe von Industriegütern aus Deutschland ausgeben.
Auch die hohen Direktinvestitionen im Ausland seien keine wirkliche
Belastung für die deutsche Wirtschaft, denn sie dienten
langfristig der Erschließung und Absicherung von
Exportmärkten. In dieser Situation seien deshalb die aus der
betriebswirtschaftlichen Sicht der Unternehmen naheliegenden
nationalen Kostensenkungsstrategien (Lohn- und Lohnnebenkosten,
Sozialstandards, Unternehmenssteuern, Umweltstandards) zur weiteren
Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls
volkswirtschaftlich gesehen kein Heilmittel. Derartige Strategien
würden die ungleiche Verteilung der Einkommen verschärfen
und die Lasten der Anpassung durch ruinösen Wettbewerb einseitig
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufbürden. Die Kaufkraft
würde damit sinken.
(65) Die Globalisierung des Wettbewerbs ist in bestimmten
Bereichen in der Tat mit einer erheblichen Reduzierung von
Arbeitsplätzen verbunden. Länder mit niedrigem Lohnniveau
übernehmen mehr und mehr die Produktion arbeitsintensiver
Produkte. Deutschland und andere entwickelte Länder
konzentrieren sich mehr auf die Herstellung von Produkten, die einen
hohen Kapitaleinsatz und eine hohe berufliche Qualifikation
verlangen. Der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitsplätzen in
Deutschland sinkt, der Bedarf an höher qualifizierten
Arbeitsplätzen hingegen steigt. Das hat zur Folge, daß
Menschen, die höheren Anforderungen nicht gewachsen sind,
schwerer einen Arbeitsplatz finden.
(66) Als Ursache für die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland
spielen hohe Lohnstückkosten eine wichtige Rolle. Beim
Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft war die
Produktivität in den ostdeutschen Betrieben zu gering, um nach
der 1:1-Umstellung der Löhne und den folgenden
Tarifabschlüssen, die auf eine zügige Anpassung an das
westdeutsche Lohnniveau zielten, wettbewerbsfähig zu sein.
Außerdem führten der Zusammenbruch der Comecon-Staaten
(RGW), das Interesse der Bevölkerung an Westprodukten und die
Einkaufspraxis des Großhandels zu Nachfrageproblemen. Die
ungeklärten Eigentumsverhältnisse, die aufgrund des
Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung« entstanden,
sowie der Kauf und die baldige Schließung ostdeutscher Betriebe
durch ihre westdeutschen Konkurrenten verschärften und
verschärfen die Schwierigkeiten.
2.2 Krise des Sozialstaats
(67) Der Sozialstaat war in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland die entscheidende Voraussetzung dafür, daß der
soziale Friede gewahrt werden konnte. Nach wie vor bietet er der
großen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf
einem hohen Niveau. Jedoch stellen grundlegende Veränderungen in
der Sozialstruktur, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die
demographische Entwicklung und die Situation der öffentlichen
Haushalte das System sozialer Sicherung vor große
Herausforderungen.
2.2.1 Armut in der
Wohlstandsgesellschaft
(68) In den letzten 20 Jahren ist mit dem Reichtum zugleich die
Armut in Deutschland gewachsen. Die Armut in Deutschland
unterscheidet sich grundlegend von der Armut in den Ländern der
Dritten Welt. Dennoch ist die Armut in der Wohlstandsgesellschaft ein
Stachel. Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Sie ist mehr
als nur Einkommensarmut. Häufig kommen bei bedürftigen
Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen,
ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe
Verschuldung, chronische Erkrankungen, psychische Probleme,
langandauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und
unzureichende Hilfen. Diese Armutssituationen treffen besonders
diejenigen, die mehrere Jahre auf Sozialhilfe angewiesen sind. Eine
der schlimmsten Auswirkungen von Armut ist der Verlust der eigenen
Wohnung, davon sind in Deutschland immer mehr Menschen, darunter
verstärkt Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Frauen und
Jugendliche betroffen. Verläßliche bundesweite Daten
über das gesamte Ausmaß akuter Wohnungsnotfälle, von
Wohnungs- und Obdachlosigkeit liegen nicht vor, zumal es darüber
keine einheitlichen Maßstäbe und Kriterien gibt. Allein
die Zahl der Obdachlosen, die amtlich untergebracht
(ordnungsrechtlich versorgt") sind, wird auf 250.000 bis
300.000 geschätzt.
(69) Armut wird heute immer noch stark tabuisiert. Der Streit
über den Armutsbegriff ähnelt dem Streit, wie er Anfang der
70er Jahre über die Umwelt geführt wurde, als Probleme mit
dem Hinweis geleugnet wurden, sie ließen sich nicht
wissenschaftlich verläßlich nachweisen. Es gilt jedoch,
die tatsächlich bestehende Armut zur Kenntnis zu nehmen. Hinter
den unterschiedlichen Definitionen von Armut verbergen sich
beunruhigende Fakten:
- die Einkommensarmut" oder relative Armut": Legt
man die Armutsgrenze bei 50 % des durchschnittlichen
Haushaltsnettoeinkommens der Bevölkerung fest, wie dies aus
pragmatischen Gründen der Vergleichbarkeit international
üblich ist, so lebten nach dieser Rechnung in den Jahren 1984
bis 1992 750.000 Menschen ununterbrochen unter der Armutsgrenze,
etwa 4,5 Millionen Menschen waren in diesem Zeitraum fünf
Jahre oder länger arm. Da die sozialen Ungleichheiten
aufgrund der ökonomischen Umbrüche in den neuen
Bundesländern sehr schnell entstanden sind, erscheinen sie
hier besonders kraß;
- die Sozialhilfebedürftigkeit": In Deutschland hat
die Sozialhilfe die Aufgabe, allen Menschen ein
menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Damit wird ein
Mindesteinkommen im Sinne einer individualisierten und
bedarfsorientierten Grundsicherung angestrebt. Am Jahresende 1994
bezogen über 2,25 Mio. Bürgerinnen und Bürger
Sozialhilfe im engeren Sinn (Hilfe zum Lebensunterhalt). Der Trend
hat sich in den letzten Jahren von der Altersarmut zur Kinderarmut
verlagert. Die stärksten Zunahmen sind bei den Kindern unter
sieben Jahren zu verzeichnen; ihre Zahl ist bis Ende 1994 auf
409.000 gestiegen. Das überdurchschnittliche Armutsrisiko von
Kindern ist besonders deshalb so besorgniserregend, weil es sich
leicht zu dauerhaften Benachteiligungen verfestigt. Seit dem Jahr
1992 ist außerdem wieder ein stärkerer Anstieg
deutscher Sozialhilfeempfänger zu beobachten;
- die verdeckte Armut": Viele Bürgerinnen und
Bürger leben in sog. verdeckter Armut, d. h. sie
hätten eigentlich einen Sozialhilfeanspruch, nehmen diesen
jedoch aus Scham, Unwissenheit oder großer Scheu vor
Behörden nicht wahr. Zu ihnen zählen viele kinderreiche
Familien mit nur einem Erwerbseinkommen. Nach der
Armutsuntersuchung des Deutschen Caritasverbandes kommen auf vier
Sozialhilfebezieher noch einmal drei verdeckt arme Menschen. Dies
waren 1993 rund 1,8 Mio. Bürgerinnen und Bürger. Damit
erhält nur knapp über die Hälfte der
Sozialhilfeberechtigten tatsächlich entsprechende
Leistungen.
Entscheidend ist, nicht beim Streit über den Begriff der
Armut stehen zu bleiben und Armut nicht auf den Einkommensaspekt
einzuengen. Es geht darum, die betroffenen Menschen sowie das Faktum
Armut in der Wohlstandsgesellschaft zu sehen und die Notwendigkeit zu
erkennen, sich für eine Verbesserung der Situation
einzusetzen.
2.2.2 Benachteiligung der Familien
(70) Eltern erfahren ihr Zusammenleben mit Kindern als große
Bereicherung ihres Lebens. Um ihrer Kinder willen nehmen sie viele
Einschränkungen in Kauf. Aber die gesellschaftlichen
Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten so
verändert, daß Eltern im Vergleich zu den Kinderlosen
immer größere wirtschaftliche und persönliche
Verzichte abgefordert werden und auch die Tragfähigkeit der
familialen Beziehungen immer häufiger überlastet wird. Die
wirtschaftliche Belastung von Familien mit Kindern kann dazu
führen, daß sie weniger Kinder bekommen, als sie sich
eigentlich wünschen. Die zunehmende Zahl von Kinderlosen in der
Bundesrepublik Deutschland offenbart darüber hinaus, daß
sich die Einstellung zu Kindern verändert hat.
(71) Statistische Erhebungen zeigen, daß der Lebensstandard
einer Familie mit zwei Kindern erheblich unter dem eines
entsprechenden kinderlosen Ehepaares liegt. Die Maßnahmen des
Familienlastenausgleichs vermögen im Durchschnitt nicht einmal
die unmittelbaren durch Kinder bedingten Aufwendungen, geschweige
denn das durch den Rückgang der Erwerbsbeteiligung sinkende
Haushaltseinkommen auszugleichen. Mehrere Kinder zu haben ist heute
zu einem Armutsrisiko geworden. Schwerer noch als die finanziellen
Einschränkungen wiegen jedoch für junge Familien andere
Benachteiligungen: Sie suchen für Kinder geeigneten Wohnraum und
erleben, sofern sie ihn überhaupt bezahlen können,
daß ihnen Kinderlose vorgezogen werden. Mehrkinderfamilien sind
hier sogar extrem benachteiligt. Sie erfahren Benachteiligungen auf
dem Arbeitsmarkt, da sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht
weniger flexibel sind. Auch der fortlaufende Verlust an gemeinsamer
Zeit (etwa durch Schichtarbeit oder Sonntagsarbeit) trifft die
Familien. Besondere Belastungen treten infolge von Arbeitslosigkeit
und Überschuldung auf. Gegen die Wahrnehmung von
Elternverantwortung verhalten sich Wirtschaft, Staat und soziale
Dienste zwar nicht ablehnend, aber vielfach indifferent, d. h.
sie behandeln Eltern und Kinderlose grundsätzlich gleich. Daraus
resultiert eine strukturelle Benachteiligung der Familien.
Deutschland gehört zu den Ländern Europas mit der
geringsten Geburtenrate und dem größten Anteil an
Einpersonenhaushalten.
2.2.3 Finanzielle Belastungen des sozialen
Sicherungssystems
(72) Eine wesentliche Ursache der Finanzierungsschwierigkeiten der
Sozialhaushalte ist die hohe Arbeitslosigkeit. Durch die
Massenarbeitslosigkeit gehen den Sozialversicherungen erhebliche
Beitragseinnahmen und den öffentlichen Haushalten entsprechende
Lohnsteuereinnahmen verloren, während andererseits die Ausgaben
der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung steigen. Geringere
Einnahmen und steigende Ausgaben führen zu
Beitragserhöhungen, die wiederum als Anstieg der Lohnnebenkosten
die Beschäftigung beeinträchtigen können.
(73) Zur Höhe der Lohnnebenkosten trägt wesentlich bei,
daß die Kassen der Sozialversicherungsträger
(Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung,
Arbeitslosenversicherung u. a.) durch Aufwendungen für die
Finanzierung der deutschen Einheit und für die aktive
Arbeitsmarktpolitik erheblich belastet werden. Diese Leistungen sind
eigentlich Aufgaben des Staates, sie wurden aber den
Sozialversicherungen übertragen. Weil die Finanzierung dieser
sog. versicherungsfremden Leistungen" durch Zuschüsse des
Bundes nicht abgedeckt wird, mußten die Beitragssätze zu
den Sozialversicherungen mehrfach angehoben werden. Hinzu kommt,
daß von den Möglichkeiten der Frühverrentung exzessiv
Gebrauch gemacht wurde, um den Arbeitsmarkt zu entlasten.
(74) Die Sozialleistungsquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch -
sie liegt bei etwa einem Drittel des Bruttosozialprodukts -, weil sie
in den neuen Ländern aus Gründen des wirtschaftlichen
Strukturwandels gegenwärtig rund 60 % beträgt. In den
alten Ländern dagegen ist sie so niedrig wie seit Jahren nicht
mehr.
(75) Schwierigkeiten für die Finanzierung der sozialen
Sicherungssysteme in Deutschland ergeben sich weiterhin daraus,
daß sich ihre ursprünglichen Voraussetzungen in den
letzten Jahrzehnten grundlegend geändert haben. Zum einen
orientieren sich die Lebensentwürfe jüngerer Frauen ganz
überwiegend zugleich an Erwerbsarbeit und Familie, und die
Frauenerwerbstätigkeit hat insbesondere mit dem Wachstum der
Büro- und Dienstleistungstätigkeiten stark zugenommen.
Gleichzeitig sind jedoch die Familienbindungen instabiler geworden.
Der Anteil der Alleinerziehenden nimmt dementsprechend zu. Zudem
bewirken die Verknappung des Angebots an Erwerbsarbeit und die
Veränderung der Beschäftigungsstrukturen eine Zunahme der
Teilzeitbeschäftigungen mit wenig gesicherten
Beschäftigungsverhältnissen. Damit steigt der Anteil
derjenigen, deren Lebensläufe nicht den Normalitätsannahmen
des sozialen Sicherungssystems entsprechen und die infolgedessen eher
von Armut bedroht und auf Sozialhilfe angewiesen sind.
(76) Hauptursachen des Anstiegs der Sozialhilfeausgaben sind
Massenarbeitslosigkeit, Kürzungen bei den
Sozialversicherungsleistungen, unzulängliche
Familienförderung und die Aufwendungen für Asylbewerber und
Zuwanderer. Offenbar wurden und werden die der Sozialhilfe
vorgelagerten Sicherungssysteme ihren Anforderungen nicht mehr
gerecht. Die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz im System sozialer
Sicherung wurde in den letzten Jahren dadurch belastet, daß sie
mehr und mehr zu einer Regelversorgung für einen wachsenden Teil
der Gesellschaft geworden ist.
(77) Über die aktuellen Finanzierungsschwierigkeiten hinaus
stellt die Bevölkerungsentwicklung das System der sozialen
Sicherung vor zusätzliche Herausforderungen. Eine anhaltend
niedrige Geburtenrate und eine deutlich gestiegene durchschnittliche
Lebenserwartung führen zu einem zunehmenden Anteil älterer
Menschen auf der einen und einem stagnierenden und zukünftig
abnehmenden Anteil der erwerbstätigen Generation sowie von
Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Dies hat nicht nur
für die Rentenversicherung, sondern auch für die
Krankenversicherung und für den Bereich der Altenpflege
erhebliche Auswirkungen. Eine Verschlechterung des
zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen der Zahl der
Rentenempfänger und der Zahl der Beitragszahler muß (bei
unveränderten Leistungen) zu höheren Beitragssätzen
oder (bei unveränderten Beiträgen) zu einer deutlichen
Verringerung der Höhe der Renten führen. Ähnliche
Probleme entstehen auch für die Finanzierung der
Beamtenversorgung.
2.3 Ökologische Krise
(78) Die ökologische Krise ist ein weltweites Problem.
Deutschland trägt an diesen weltweiten Problemen mit. Die
Industrialisierung hat zu einer wachsenden Überforderung der
Tragekapazitäten der Ökosysteme geführt. Obwohl in
manchen Branchen bereits ein recht hohes Niveau des technischen
Umweltschutzes erreicht ist, wird die Regenerationsfähigkeit der
Natur oftmals überbelastet; viele Gefährdungen,
Schädigungen und Belastungen nehmen weiterhin zu.
(79) Zu den gravierendsten Umweltschäden gehören die
Übernutzung und Vernichtung erneuerbarer Ressourcen, die
Belastung von Luft, Wasser und Boden, die Ausrottung zahlreicher
Pflanzen- und Tierarten, der Raubbau an nicht erneuerbaren
Ressourcen, die Zerstörung und Verödung von Landschaften
und Regionen, das hohe Abfallaufkommen sowie das ungeklärte
Problem der atomaren Endlagerung. Zu den Problemen, auf die bisher
nicht in der notwendigen Weise reagiert wurde, zählen vor allem
der Abbau der Ozonschicht und die Erwärmung der
Erdatmosphäre. Diese klimatischen Umweltgefährdungen
stellen aufgrund ihres globalen Charakters sowie ihrer schwer
kalkulierbaren Folgen für die ökologischen Kreisläufe
eine qualitativ neuartige und existentielle Herausforderung für
die moderne Zivilisation dar. Viele Bemühungen um Verbesserung
scheitern an nationalstaatlichem Egoismus und an der Kurzsichtigkeit
betroffener Branchen. Die Fakten sind kaum noch umstritten. Auch an
politischen Absichtserklärungen fehlt es nicht. Dennoch gelingt
es nur mühsam, diese Einsichten in konkrete Maßnahmen
umzusetzen und sie für die ökologische Kooperation der
Staaten zu nutzen.
(80) Insbesondere die Industriegesellschaften nehmen eine
Entwicklung, die an die Grenzen der Tragekapazität wichtiger
ökologischer Systeme stößt. Durch den rapiden
Verbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen werden die
Lebenschancen der Menschen in den Ländern des Südens und
der künftigen Generationen in erheblichem Maß
beeinträchtigt. Wenn es nicht gelingt, die Ausbeutung der Natur
wirksam einzuschränken, wird der Nachwelt eine Hypothek
hinterlassen, die sie kaum mehr abtragen kann. Nachsorgender
Umweltschutz wird immer schwerer finanzierbar, viele gravierende
Schädigungen der Lebensgrundlagen erweisen sich als
irreversibel. Je mehr also nötige Umweltschutzmaßnahmen
versäumt werden, desto mehr ist zu befürchten, daß
auch künftig lediglich die gröbsten Schäden beseitigt
werden können und damit die langfristigen Belastungen für
andere Länder und künftige Generationen weiter ansteigen.
Trotz der mittlerweile enorm verbesserten Möglichkeiten für
einen effektiven und schonenden Umgang mit den Ressourcen sowie
für eine Reduktion des Schadstoffausstoßes wachsen die
Umweltschäden weiter an. Ein Wohlstandsgewinn durch nur
quantitatives Wirtschaftswachstum wird in Westeuropa somit immer
fragwürdiger.
(81) In ökologischer Hinsicht gewinnt vor diesem Hintergrund
der Beitrag, den die Land- und Forstwirtschaft über die
Versorgung mit hochwertigen Produkten hinaus zur Sicherung und
Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung
einer vielfältigen Landschaft als Siedlungs-, Wirtschafts- und
Erholungsraum leistet, ein besonderes Gewicht. Die überkommenen,
bewährten Prinzipien bäuerlichen Wirtschaftens sind auf
eine umweltverträgliche und nachhaltige Bodennutzung und
Tierhaltung ausgerichtet. Um so bedauerlicher ist, daß weder
die Reform der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik noch
nationalstaatliche Programme verhindern konnten, daß immer
weniger Landwirte in der Landwirtschaft eine auskömmliche
Existenz finden und eine Zukunftsperspektive sehen. Zahlreiche Bauern
haben ihre Landwirtschaft bereits aufgeben müssen. Andere
fürchten um ihre berufliche Existenz oder - wenn eine
Übergabe nicht möglich ist - um das Fortbestehen ihres
Hofes. Die Schwierigkeiten greifen auch auf andere Bereiche und
Berufe des ländlichen Raums wie Handwerk, Handel und
Dienstleistungen über. Das traditionelle Bild der Landwirtschaft
in der Kulturgemeinschaft des Dorfes verliert damit an prägender
Kraft. Der fortschreitende Wandel von einer bäuerlich
geprägten Landwirtschaft zur Agrarindustrie schreitet weiter
fort.
2.4 Europäischer
Integrationsprozeß
(82) Die Politik der europäischen Einigung ist für den
Kontinent und für die Zukunft Deutschlands von entscheidender
Bedeutung. 50 Jahre Frieden und Stabilität in Westeuropa, der
Wiederaufstieg der europäischen Länder nach dem Zweiten
Weltkrieg, die friedliche Einbeziehung Deutschlands in die
Völkergemeinschaft sowie die Wiederherstellung der deutschen
Einheit im Einklang mit den europäischen Partnern wären
ohne die europäische Integration nicht möglich gewesen.
Auch in Zukunft muß das Einigungswerk fortgesetzt werden, um in
Europa Frieden und Stabilität sowie den wirtschaftlichen und
sozialen Fortschritt zu sichern. Das historische Werk der
europäischen Einigung darf keinesfalls auf den wirtschaftlichen
Aspekt verkürzt werden. Die Fundamente für dieses
Einigungswerk wurzeln sehr viel tiefer: in jahrhundertealter,
gemeinsamer, christlich geprägter Geschichte und
Überlieferung, und damit in dem Bewußtsein der
Europäer, daß sie eine Wertegemeinschaft sind, aus der
sich gemeinsame politische Orientierungen, Normen und Institutionen
wie Demokratie, Rechtsstaat und moderner Sozialstaat entwickelt
haben. Aufbauend auf diesen gemeinsamen Werten ist die
Europäische Union als Rechtsgemeinschaft entstanden, die in
viele Lebensbereiche hinein Wirkungen entfaltet.
(83) Auf dem Hintergrund des Prozesses der Globalisierung
erhält die europäische Integration zusätzliches
Gewicht. Der europäische Einigungsprozeß, insbesondere die
Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, steht für
die Einsicht, daß eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die
nicht von den internationalen Märkten abhängig sein will,
übergreifender Entscheidungs- und Koordinationsinstanzen bedarf.
Die Institutionen und Instrumente, wie sie innerhalb der
Europäischen Union entstanden sind und fortentwickelt werden
müssen, eröffnen Möglichkeiten, um eine gemeinsame
europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter
auszubauen.
2.5 Globale Herausforderungen
(84) Der Prozeß der fortschreitenden Globalisierung basiert
auf der weltweiten Integration von Märkten sowie dem Abbau von
Handelsschranken und Mobilitätsbarrieren. Er wäre nicht
möglich ohne die neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien. Globalisierung bedeutet: weltweite
Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen,
zunehmende Freizügigkeit für unternehmerisches Handeln und
weltweite Verfügbarkeit technischen Wissens und Könnens
sowie qualifizierter Arbeitskräfte. Hinzu kommt eine wachsende
Mobilität des Kapitals. Zunehmend werden finanzielle Mittel
nicht im eigenen Land reinvestiert, sondern auf den internationalen
Kapitalmärkten angelegt, so daß sie für Investitionen
und die Schaffung von Arbeitsplätzen im eigenen Land nicht
verfügbar und der Aufgabe, im nationalen Rahmen
Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten, entzogen sind. Mehr
und mehr verselbständigt sich damit der Kapitalverkehr.
(85) Die Globalisierung führt damit nicht nur dazu, daß
die Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte die Grenzen der
Nationalstaaten immer häufiger überschreiten, sondern hat
auch zur Folge, daß die Produktions- und
Investitionsentscheidungen in wachsendem Maße den Standort in
mehreren Ländern betreffen. Arbeitsprozesse oder
Wertschöpfungsanteile werden kostenminimierend auf verschiedene
Länder verteilt. Einfache Produktionen sind dort zu finden, wo
die Löhne niedrig sind, geforscht wird in den Ländern, in
denen es kaum gesetzliche Beschränkungen gibt, Gewinne werden
dort ausgewiesen, wo die Steuersätze besonders gering oder die
Abschreibungsregeln besonders großzügig sind.
(86) Im Zuge der Globalisierung hat sich der Wettbewerb erheblich
verschärft. Die Schwellenländer Mittel- und Osteuropas,
Südostasiens und Lateinamerikas verlangen mit ihren Produkten
Zugang zu den Märkten der Industrienationen und empfehlen sich
gleichzeitig als Standorte für neue Investitionen. Die
Löhne in den östlichen Nachbarländern Deutschlands
liegen bei den derzeitigen Wechselkursen zum Teil bei einem Zehntel
(Tschechien und Polen) der Löhne in Deutschland, zum Teil sogar
bei einem Hundertstel (Ukraine und Rußland).
(87) Die Globalisierung birgt Chancen und Risiken. Der deutschen
Wirtschaft eröffnet sie seit langem ausgiebig genutzte
Möglichkeiten, an den rasch wachsenden weltweiten Märkten
teilzunehmen. Viele Länder des Südens und des Ostens haben
Zugang zu den Märkten in den Industrieländern erhalten.
Unter der Voraussetzung, daß der Welthandel nicht durch
protektionistische Bestrebungen der Industrieländer weiter
verzerrt wird, ist dieser Marktzugang sogar wichtiger als
Entwicklungshilfe. In einer Reihe von Ländern, z. B. in
Asien und Lateinamerika, wurde ein wirtschaftlicher Aufschwung
erzielt, der auch großen Teilen der Bevölkerung dieser
Länder, jedoch nicht allen in gleicher Weise zugute kam. Der
neue Wohlstand führt dort auch zu mehr sozialer Sicherung.
Andererseits nimmt die Polarisierung zwischen den dynamischen
Wachstumszentren und den Regionen, die den Anschluß an diese
Entwicklung verlieren, zu.
(88) Nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik wird im
Zeitalter der Globalisierung schwieriger. Weil bei den
Standortentscheidungen die Vorteile der verschiedenen Nationalstaaten
miteinander verglichen werden, stößt die herkömmliche
nationalstaatliche Wirtschaftspolitik an Grenzen. Der Prozeß
der Globalisierung ist von einer so starken Eigendynamik, daß
er von einem einzelnen Nationalstaat immer schwerer beeinflußt
werden kann. Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet gleichzeitig
die Globalisierung der sozialen und der ökologischen Frage.
Damit wächst die Bedeutung einer gemeinsamen Verantwortung der
Völkergemeinschaft. Globalisierung ereignet sich nicht wie eine
Naturgewalt, sie verlangt nach politischer Gestaltung.
(89) Das Wohlstandsgefälle zwischen den ärmsten und den
reichen Ländern hat weiter zugenommen. In einigen
Entwicklungsländern verhindern oder bremsen korrupte Eliten,
ethnische Konflikte und geringe Partizipationsmöglichkeiten der
Bevölkerung die wirtschaftliche und politische Entwicklung.
Neben diesen internen stehen die externen Faktoren, die die politisch
und wirtschaftlich Verantwortlichen in den Industrieländern
beeinflussen können. Dazu gehören der Agrarprotektionismus
der Industrieländer, eine nur schleppend vorankommende
Entschuldung und Entscheidungen und Absprachen internationaler
Organisationen (z. B. Internationaler Währungsfonds,
Weltbank, UNO-Sicherheitsrat).
(90) Kriege, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen,
Naturkatastrophen, Elend und Hunger zwingen weltweit immer mehr
Menschen zum Verlassen ihrer Heimatländer. Die schnelle Zunahme
und das Ausmaß von Migration, Flucht und Vertreibung in aller
Welt sind zu einem der prägenden Merkmale der letzten Jahrzehnte
des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Dies läßt auch
Deutschland nicht unberührt. Die Migranten, die als
Arbeitnehmer, Flüchtlinge und Asylbewerber oder auch als
Aussiedler nach Deutschland kommen, sind nur ein kleiner Teil der
weltweiten Wanderungsbewegung. Derzeit leben in Deutschland fast
8 Mio. Ausländer, davon 5,5 Mio. Arbeitsmigranten mit ihren
Familien. Viele von ihnen sind rechtlich und gesellschaftlich noch
nicht integriert, obwohl sie vielfach bereits in der zweiten und
dritten Generation in Deutschland leben. Der Umgang mit ihnen ist ein
Bewährungsfeld für die Offenheit, Solidarität,
Toleranz und Freiheitlichkeit der Gesellschaft.7
3. Perspektiven und Impulse aus dem
christlichen Glauben
3.1 Die Frage nach dem Menschen
(91) Analysen gesellschaftlicher Herausforderungen setzen
bestimmte Kriterien der Wahrnehmung voraus und schließen
anthropologische und ethische Vorentscheidungen ein. Ebenso
gründet die Soziale Marktwirtschaft auf anthropologischen und
ethischen Vorentscheidungen. Sie geht aus von einem Menschenbild, das
Freiheit und persönliche Verantwortung wie Solidarität und
soziale Verpflichtung beinhaltet. Insofern beruht die Soziale
Marktwirtschaft auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht
herstellen und auch nicht garantieren kann, ohne die sie aber auf
Dauer nicht lebensfähig ist. Gerade in der gegenwärtigen
Situation eines tiefgreifenden Umbruchs muß an diese
Voraussetzungen erinnert werden, weil allein so Kräfte für
die Vision wie für die Motivation erwachsen können,
angesichts der neuen Herausforderungen das Leitbild einer
solidarischen und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen.
(92) Die Besinnung auf das Menschenbild und die Grundwerte, auf
denen die Soziale Marktwirtschaft gründet, ist die
unerläßliche Voraussetzung für eine nachhaltige
Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Hier liegt der
genuine Beitrag der Kirchen. Denn das Menschenbild des Christentums
gehört zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der
gemeinsamen europäischen Kultur und der aus ihr erwachsenen
wirtschaftlichen und sozialen Ordnung.
3.2 Weltgestaltung aus dem christlichen
Glauben
3.2.1 Weltgestaltung als Gabe und
Aufgabe
(93) Im Licht des christlichen Glaubens erschließt sich eine
bestimmte Sicht des Menschen: Er ist als Bild Gottes, als das ihm
entsprechende Gegenüber geschaffen und so mit einer einmaligen
unveräußerlichen Würde ausgezeichnet. Er ist als Mann
und als Frau geschaffen; beiden kommt gleiche Würde zu. Zugleich
ist er mit der Verantwortung für die ganze Schöpfung
betraut; der Mensch soll Sachwalter Gottes auf Erden sein
(Gen/1. Mos 1,26-28). So ist der Mensch geschaffen und berufen,
um als leibhaftes, vernunftbegabtes, verantwortliches Geschöpf
in Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, zu den Mitmenschen und zu
allen Geschöpfen zu leben. Das ist gemeint, wenn vom Menschen
als Person und von seiner je einmaligen und
unveräußerlichen Würde als Person die Rede ist.
(94) Die Bibel spricht auch von der Gebrochenheit der
ursprünglichen Schöpfungsordnung, von der Entfremdung des
Menschen von seiner eigentlichen Bestimmung. In den Geschichten vom
Brudermord Kains an Abel, vom Turmbau zu Babel und von der Sintflut
deutet sie in Bildern die durch Sünde und Schuld, durch
menschlichen Hochmut und Egoismus wie durch strukturelle
Ungerechtigkeit bestimmte menschheitliche Situation. Sie bezeugt
freilich zugleich den Anbruch der neuen Schöpfung durch Kreuz
und Auferstehung Jesu Christi, das Geschenk der Vergebung und
Versöhnung wie der neuen Freiheit. Weil die Menschen in Jesus
Christus bereits erlöst sind, brauchen sie sich in ihrer Lebens-
und Weltgestaltung nicht selbst zu erlösen. Das befreit zu einem
Handeln, das nicht länger der Sorge um sich selbst und der
Absicherung durch Macht verpflichtet ist, sondern den Anforderungen
der Sache und dem gegenseitigen Dienst. Der christliche Glaube lebt
von der Hoffnung auf die neue Schöpfung, in welcher alle
Tränen abgetrocknet, Klage, Trauer und Mühsal nicht mehr
sein werden (Offb 21,4). Menschen können dieses Reich Gottes
nicht machen". Den Perfektionszwängen und
Überforderungen ist damit der Abschied gegeben. Die christliche
Hoffnung macht fähig, im Raum des Vorletzten das, was
unvollkommen bleibt, auszuhalten und zu würdigen. Sie gibt keine
detaillierten Handlungsanweisungen, sie nimmt aber in Verantwortung
für die Welt und den Menschen. Sie gibt Licht und Kraft, Mut und
Zuversicht, sich unter den Bedingungen und in den Verhältnissen
dieser Welt für eine menschenwürdige, freie, gerechte und
solidarische Ordnung einzusetzen. Dieser Einsatz im Horizont des
Reiches Gottes heißt, Zeugnis zu geben von der Würde des
Menschen.
(95) Trotz der Gebrochenheit menschlicher Existenz ist dem von
Gott berufenen Menschen mit der Schöpfung wie mit der
Erlösung die Fähigkeit zu einer verantwortlichen Gestaltung
der Welt geschenkt. Dieses Können geht allem Sollen voraus. Die
ethische Forderung entspringt der von Gott gegebenen Befähigung
zu einem vernünftigen und verantwortlichen Handeln. Solcher
Zuspruch und solche Ermutigung ist in der gegenwärtigen
Umbruchsituation in besonderer Weise vonnöten.
3.2.2 Weltgestaltung aus geschichtlicher
und heilsgeschichtlicher Erfahrung
(96) Die Berufung zur verantwortlichen Lebens- und Weltgestaltung
gilt jedem und jeder einzelnen, jedoch nicht als Vereinzelte. Gott
hat den Menschen als Individuum wie als Gemeinschaftswesen geschaffen
und in die Gemeinschaft des Volkes Gottes berufen. Das Volk Gottes
lebt aus der Erinnerung an die Geschichte des Erbarmens Gottes; es
erzählt immer wieder Geschichten des göttlichen Erbarmens
und feiert es in seinen Festen. Daraus schöpft es Kraft und
Zuversicht; es weiß sich dadurch zugleich motiviert zur
barmherzigen und solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und
Benachteiligten. Das Erbarmen macht damit ernst, daß jeder
menschlichen Person, auch den Schwachen und den mit Schuld Beladenen,
eine unveräußerliche Würde zukommt. Dieser Schatz
geschichtlicher Erinnerung hilft, den neuen Herausforderungen gerecht
zu werden.
(97) Die grundlegende geschichtliche Erfahrung ist die der
Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. Sie
zeigt: Gott ist seinem Volk gnädig und barmherzig; er will das
Leben der Menschen, und er befreit sie zur Freiheit. Er will
zugleich, daß die Menschen sich ebenso wie er zu ihren
Mitmenschen verhalten. So gründet die Lebensordnung der Zehn
Gebote (Ex/2. Mos 20,1-17; Dtn/5. Mos 5,6-21) in der Erfahrung der
Befreiung und im Bund Gottes mit seinem Volk. Sie zielt darauf, die
in Gottes Befreiung geschenkte Freiheit durch Achtung vor dem Leben,
durch Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wie durch Zeugnis für die
Wahrheit zu verwirklichen. Die Zehn Gebote sind Weisungen zu einem
Leben in Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit.
Als solche sind sie kein biblisches Sonderethos; sie nehmen vielmehr
allgemein-menschheitliche Einsichten auf, bestätigen und
bekräftigen sie aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte
Gottes mit seinem Volk.
(98) Die Erfahrung der Treue Gottes, der trotz menschlicher
Untreue seinen Bund bewahrt, steht Hoffnung stiftend gegen die
vielfältigen Kontrasterfahrungen der Geschichte, die Erfahrung
der Ungerechtigkeit, Treulosigkeit und Verlogenheit. Sie lädt
die Menschen immer wieder neu ein zu einem Handeln, das dem
rechtschaffenden und gnädigen Willen Gottes für jeden
einzelnen wie für alle dadurch Raum schafft, daß es die
Mächte des Bösen eindämmt und das Gute befördert.
Die Bibel übt prophetische Kritik an gesellschaftlichen
Unrechtssituationen (Am 4,1; 5,7-15; 6,1-8; Jes 1,15-17; 10,1-4
u. a.); sie setzt sich vor allem für die Benachteiligten
und für die Fremden ein (Ex/2. Mos 22,20-26; 23,6-9;
Lev/3. Mos 19,11-18.33f; Dtn/5. Mos 15,7-11; 24,17-22
u. a.). So wird in großen Teilen des Alten Testaments die
gesellschaftsgestaltende Kraft des biblischen Glaubens deutlich.
(99) Das Auftreten und die Botschaft Jesu liegen auf der Linie der
Gottes- und Geschichtserfahrung seines Volkes. Jesus verbindet seine
Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes und die Einladung zum Glauben
mit dem Ruf zur Umkehr (Mk 1,15), d. h. zu einem Leben, das ganz
auf Gott und seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit setzt und sie im
mitmenschlichen Leben bewährt. Jesus erneuert und erfüllt
die alttestamentliche Verheißung der Befreiung und Heilung (Lk
4,16-30) und stellt sie in den Seligpreisungen der Bergpredigt ganz
in den Horizont der Verheißung des Lebens für die Armen,
Kleinen, Sanftmütigen und Gewaltlosen (Mt 5,3-12; Lk 6,20-26).
Wenn er die alttestamentliche Forderung, heilig zu sein, so wie Gott
heilig ist (Lev/3. Mos 19,2), aufnimmt (Mt 5,48), dann bedeutet
dies für ihn zugleich, barmherzig zu sein, so wie Gott
barmherzig ist (Lk 6,36). Mit dem Gebot der Nächsten-, ja der
Feindesliebe (Mt 5,43-47; Lk 6,27-28) greift Jesus aus der
Menschheitsüberlieferung die Goldene Regel auf und
überbietet sie zugleich: Alles, was ihr von anderen
erwartet, das tut auch ihnen." (Mt 7,12; Lk 6,31) Jesus hat diese
Haltung nicht nur gelehrt, sondern sie auch vorgelebt. Er war ganz
der Mensch für die anderen Menschen. Er ist selbst den Weg der
Solidarität, der Barmherzigkeit und der Gewaltlosigkeit
gegangen. Aufgrund seines Leidens und seines gewaltsamen Todes ist er
den Menschen in allem solidarisch geworden (Phil 2,6-11). Kreuz und
Auferstehung Jesu Christi begründen die Hoffnung, daß Gott
ihnen in allen und gerade in den menschlich hoffnungslosen
Situationen Heil schaffend nahe ist.
3.2.3 Weltgestaltung als Auftrag der Kirche
als Volk Gottes
(100) Die Linien des biblischen Ethos, die im Alten wie im Neuen
Testament aufgezeigt sind, bestimmen auch die Lebensordnung und die
soziale Botschaft der Kirche als Volk Gottes. In der Nachfolge Jesu
existiert die Kirche nicht für sich selbst, und sie darf sich
auch nicht nur mit sich selbst beschäftigen. Sie hat eine
Sendung für alle Menschen und alle Völker (Mt 28,19). Sie
soll durch Wort und durch Tat allen Menschen die frohe und befreiende
Botschaft von Gottes Gegenwart mitten in unserem Leben und in unserer
Geschichte bezeugen. Ihre Botschaft vom Heil gilt dem einzelnen
Menschen wie dem Zusammenleben der Menschen und der Völker. Die
Kirche hat damit einen öffentlichen Auftrag und eine
Verantwortung für das Ganze des Volkes und der Menschheit.
(101) Deshalb dürfen Glauben und Leben, Verkündigung und
Praxis der Kirche sowohl im eigenen Verhalten der Kirche wie in ihrer
Botschaft nicht auseinandertreten. Die Christen können nicht das
Brot am Tisch des Herrn teilen, ohne auch das tägliche Brot zu
teilen. Ein weltloses Heil könnte nur eine heillose Welt zur
Folge haben. Der Einsatz für Menschenwürde und
Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Solidarität ist
für die Kirche konstitutiv und eine Verpflichtung, die ihr aus
ihrem Glauben an Gottes Solidarität mit den Menschen und aus
ihrer Sendung, Zeichen und Werkzeug der Einheit und des Friedens in
der Welt zu sein, erwächst. Auch in dem Bemühen um
gegenseitige Annäherung und um Einheit versuchen die getrennten
Kirchen, dieser ihrer Sendung zu entsprechen und Zeichen der
Versöhnung zu setzen.
(102) Die soziale Botschaft, die die Kirchen auf der Grundlage des
biblischen Ethos in wachsender Gemeinsamkeit im gesellschaftlichen
Raum geltend machen, ist das Ergebnis der Reflexion über
menschliche Erfahrungen in verschiedenen geschichtlichen Situationen
und Kulturen. Die christliche Soziallehre ist darum kein abstraktes
System von Normen; sie entspringt vielmehr der immer wieder neuen
Reflexion auf die menschliche Erfahrung in Geschichte und Gegenwart
im Licht des christlichen Menschenbildes. Sie gibt keine technischen
Lösungen und konkreten Handlungsanweisungen, sondern vermittelt
Perspektiven, Wertorientierungen, Urteils- und Handlungskriterien.
Sie hat sowohl eine prophetisch-kritische wie eine ermutigende,
versöhnende und heilende Funktion.
3.3 Grundlegende ethische
Perspektiven
3.3.1 Das Doppelgebot der Gottes- und
Nächstenliebe
(103) Die Erinnerung an Gottes Erbarmen begründet das
Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe (Mk 12, 28-31
par), in dem das menschliche Handeln seine grundlegende biblische
Orientierung findet. Dieses Doppelgebot gilt nach neutestamentlichem
Zeugnis als Zusammenfassung aller anderen Gebote und so als
Erfüllung des Gesetzes" (Röm 13,8-10). Jesus setzt
das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe mit dem Gehalt des
alttestamentlichen Gesetzes gleich (vgl. Mt 22,34-40). Es ist die
Grundnorm, in der sich das biblische Ethos als Gemeinschaftsethos auf
den Begriff bringen läßt. Dabei bleibt der Anspruch nicht
auf die Gemeinschaft des Volkes Israel oder der christlichen Gemeinde
beschränkt. Im Gebot, den Fremden zu lieben wie dich
selbst" (Lev/3. Mos 19,34), und im Gebot der Feindesliebe (Lk
6,27.35) werden alle Grenzen überschritten. Es kommt zu einer
Entfeindung aller mitmenschlichen Beziehungen und zu einer
Entgrenzung mitmenschlicher Solidarität. So kommt in der Einheit
von Gottes- und Nächstenliebe der Zusammenhang von
Gottesbeziehung und Weltverantwortung, von Glaube und Ethos als
sittliche Grundidee der biblischen Tradition zum Ausdruck.
(104) Gottesliebe ohne Nächstenliebe bleibt abstrakt, ja
letztlich unwirklich: Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber
seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen
Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er
nicht sieht." (1 Joh 4,20) Deshalb wird die Gottesliebe in der
Nächstenliebe zur Tat, wie umgekehrt die gelebte
Nächstenliebe zur Gottesliebe führt. Wenn also Gottes- und
Nächstenliebe, Glaube und Ethos, Bekenntnis sowie Feier des
Glaubens und Praxis der Gerechtigkeit nicht voneinander zu trennen
sind, dann muß sich das Doppelgebot der Liebe auch in der
strukturellen Dimension auswirken: in dem Ringen um den Aufbau einer
Gesellschaft, die niemanden ausschließt und die Lebenschancen
für alle sichert.
3.3.2 Vorrangige Option für die Armen,
Schwachen und Benachteiligten
(105) Die christliche Nächstenliebe wendet sich vorrangig den
Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für
die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns. Die Erfahrung
der Befreiung aus der Knechtschaft, in der sich Gottes vorrangige
Option für sein armes, geknechtetes Volk bezeugt, wird in der
Ethik des Volkes Israel zum verbindlichen Leitmotiv und zum zentralen
Argument für die Gerechtigkeitsforderung im Umgang mit den
schwächsten Gliedern der Gesellschaft: Das Recht der Armen wird
begründet mit der Erinnerung an die Rettung aus der Sklaverei:
Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen.
Du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. Denk daran:
Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott,
dort freigekauft. Darum mache es dir zur Pflicht, diese Bestimmung
einzuhalten." (Dtn/5. Mos 24,17f) Besonders eindringlich
prangern die Propheten Ungerechtigkeit, Ausbeutung und
Unterdrückung an, die das Leben der Gesellschaft Israels
vergiften, und stellen die Verantwortlichen unter das Urteil Gottes
(Am 2,6f u. a.). Dabei geht es nicht um Vernichtung, sondern um
die Rettung der ganzen Gemeinschaft des Gottesvolkes. Entscheidend
ist: Der lebensförderliche Umgang mit den Armen, die
Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit sind Indiz der Treue zum
Gottesbund.
(106) In der Gerichtsrede des Matthäusevangeliums gewinnt der
Zusammenhang zwischen der Option Gottes für die Armen und dem
gerechten Tun der Menschen sehr konkreten Ausdruck. Jesus Christus
macht die Entscheidung über die endgültige
Gottesgemeinschaft der Menschen abhängig von der gelebten
Solidarität mit den Geringsten. Kommt her, die ihr von
meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der
Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war
hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr
habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr
habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung
gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im
Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen ... Amen, ich sage euch:
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das
habt ihr mir getan." (Mt 25,34-36.40) Die versöhnliche Begegnung
mit den Armen, die Solidarität mit ihnen, wird zu einem Ort der
Gottesbegegnung.
(107) In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv
gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von
Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen
Ethik muß darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft,
Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die
Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem
Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die
Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am
gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die
Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands
leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar
machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die
Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen
von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige,
auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden
zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.
3.3.3 Gerechtigkeit
(108) Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellen
Herausforderungen zusammen lesen, gewinnen sie nicht nur ethische
Orientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich vielmehr
auch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen
der Gesellschaft beziehen. Dazu gehört vor allem der Begriff der
Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein Schlüsselbegriff der
biblischen Überlieferung, der alles umschließt, was eine
heile Existenz des Menschen ausmacht. Er steht in der Bibel in
Verbindung mit Frieden, Freiheit, Erlösung, Gnade, Heil.
(109) In der älteren philosophischen und theologischen
Diskussion wurde die Idee der Gerechtigkeit als grundlegendes
Ordnungsprinzip der Gesellschaft entfaltet. Sie besagt, daß
jedem das Seine und d. h. daß jedem sein Recht zukommt,
als Person anerkannt zu werden und ein menschenwürdiges Dasein
zu führen. Jedem kommt das Recht zu, die grundlegenden
materiellen und immateriellen Möglichkeiten zu haben, um sein
Leben in eigener Verantwortung zu gestalten und bei der Gestaltung
des Lebens der Gesellschaft mitbestimmen und mitwirken zu
können. Jedem kommt damit auch das als sein Recht zu, was er
aufgrund öffentlich anerkannter Regeln durch eigene Leistung
geschaffen bzw. erworben hat. Dieses Recht jedes einzelnen ist von
allen anderen wie vom Gesellschaftsganzen zu respektieren, wie
umgekehrt jeder die Rechte der anderen und des Ganzen der
Gesellschaft respektieren muß. Allein durch solche
Gerechtigkeit ist der Frieden in der Gesellschaft und in der Welt zu
sichern.
(110) In der theologischen Tradition wurde die Idee der
Gerechtigkeit nach den verschiedenen Beziehungsebenen aufgegliedert.
Danach hat der einzelne gegenüber dem Staat bzw. dem
Gesellschaftsganzen die Verpflichtung, die als Gesetzesgerechtigkeit
(iustitia legalis) bezeichnet wird; umgekehrt ist der Staat dem
einzelnen gegenüber in der Pflicht im Sinne der austeilenden
Gerechtigkeit (iustitia distributiva). Beide zielen auf die gerechte
Verteilung von Rechten und Pflichten im Gemeinwesen. Darüber
hinaus sind die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsgliedern nach
Gerechtigkeitsmaßstäben zu gestalten; dies besagt die
ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), die im Hinblick
auf die Situation in der Wirtschaft auch das Gebot der Fairneß
in den Marktbeziehungen umfaßt.
(111) So wichtig und für die Gestaltung gesellschaftlicher
Beziehungen hilfreich eine solche Einteilung ist, so wenig kann sie
unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft genügen. Deshalb
hat der Begriff der sozialen Gerechtigkeit als übergeordnetes
Leitbild Eingang in die Sozialethik der Kirchen gefunden. Er besagt:
Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein
Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von
Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche
Chancen und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen.
(112) In dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit drückt sich
aus, daß soziale Ordnungen wandelbar und in die gemeinsame
moralische Verantwortung der Menschen gelegt sind. Zur Verwirklichung
von Gerechtigkeit gehört es daher, daß alle Glieder der
Gesellschaft an der Gestaltung von gerechten Beziehungen und
Verhältnissen teilhaben und in der Lage sind, ihren eigenen
Gemeinwohlbeitrag zu leisten. Suche nach Gerechtigkeit ist eine
Bewegung zu denjenigen, die als Arme und Machtlose am Rande des
sozialen und wirtschaftlichen Lebens existieren und ihre Teilhabe und
Teilnahme an der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verbessern
können. Soziale Gerechtigkeit hat insofern völlig zu Recht
den Charakter der Parteinahme für alle, die auf
Unterstützung und Beistand angewiesen sind ... Sie
erschöpft sich nicht in der persönlichen Fürsorge
für Benachteiligte, sondern zielt auf den Abbau der
strukturellen Ursachen für den Mangel an Teilhabe und Teilnahme
an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen."8
(113) Es müssen also Strukturen geschaffen werden, welche dem
einzelnen die verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Leben erlauben. Dazu gehört neben den
politischen Beteiligungsrechten Zugang zu Arbeits- und
Beschäftigungsmöglichkeiten, die ein menschenwürdiges,
mit der Bevölkerungsmehrheit vergleichbares Leben und eine
effektive Mitarbeit am Gemeinwohl ermöglichen. Um sich
beteiligen zu können und die Möglichkeit zu haben, in der
öffentlichen Meinungsbildung gehört und verstanden zu
werden, ist außerdem ein Bildungssystem notwendig, das neben
beruflichen Fähigkeiten politisches Urteilsvermögen und die
Fähigkeit zu politischem Engagement vermittelt.
(114) Bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit kommt dem
biblischen Ethos eine befreiende und stimulierende Funktion zu. Das
biblische Ethos erschöpft sich nämlich nicht in der
Forderung nach Gerechtigkeit. Das der menschlichen Person Zukommende
und Gebührende ist mehr als Gerechtigkeit, nämlich
persönliche Zuwendung, Liebe und Barmherzigkeit. So ist die
Barmherzigkeit eine Erfüllung der Gerechtigkeit, die diese
zugleich überbietet. Eben deshalb hebt die Barmherzigkeit die
Forderungen der Gerechtigkeit nicht auf. Die christliche
Barmherzigkeit setzt die Gerechtigkeit vielmehr voraus, und sie
muß ihre Authentizität in der Motivation und in der
Entschlossenheit zur Gerechtigkeit gegen jedermann, im Kampf gegen
ungerechte Strukturen und im Einsatz für den Aufbau einer
gerechteren Gesellschaft erweisen.
3.3.4 Solidarität und
Subsidiarität
(115) Eine gerechte Gesellschaft baut auf den beiden sich
ergänzenden Prinzipien der Solidarität und der
Subsidiarität auf. Sie bringen zum Ausdruck, daß der
Mensch je einmalige Person und als solche zugleich ein soziales Wesen
ist.
(116) Der Begriff Solidarität wird in der Alltagssprache wie
im politischen Sprachgebrauch so vielfältig verwendet, daß
es nicht einfach ist, ihn eindeutig zu bestimmen und vor
Mißbrauch zu schützen. Solidarität meint
zunächst die Tatsache menschlicher Verbundenheit und
mitmenschlicher Schicksalsgemeinschaft. Wenn Menschen aufgrund von
Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder wechselseitigen
Abhängigkeiten entdecken, daß sie trotz vielfältiger
Unterschiede dennoch ein wir" bilden, kann aus dieser Tatsache
ein Impuls zu solidarischem Handeln entstehen. Denn die Tatsache der
Verbundenheit bzw. der Abhängigkeit fordert zu ethischer
Gestaltung heraus, und in diesem qualifizierten Sinne ist
Solidarität Sache und Ergebnis einer Entscheidung. Menschen, die
sich solidarisch verbunden wissen, erkennen und verfolgen gemeinsame
Interessen und verzichten auf eigennützige Vorteilssuche, wenn
diese zu Lasten Dritter oder der Gemeinschaft geht.
(117) Die Bereitschaft zu solidarischem Handeln soll auch
über den unmittelbar überschaubaren zwischenmenschlichen
Bereich hinaus die sozialen Beziehungen zwischen den
gesellschaftlichen Gruppen und Kräften prägen. In diesem
Sinne versteht die Enzyklika Sollicitudo rei socialis
Solidarität als die feste und beständige Entschlossenheit,
sich für das Gemeinwohl", und das heißt für das
Wohl aller und eines jeden einzusetzen. Diejenigen, die am
meisten Einfluß haben, weil sie über eine
größere Anzahl von Gütern und Dienstleistungen
verfügen, sollen sich verantwortlich für die
Schwächsten fühlen und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz
zu geben. Auf derselben Linie von Solidarität sollten die
Schwächsten ihrerseits keine rein passive oder
gesellschaftsfeindliche Haltung einnehmen, sondern selbst tun, was
ihnen zukommt, wobei sie durchaus auch ihre legitimen Rechte
einfordern. Die Gruppen der Mittelschicht ihrerseits sollten nicht in
egoistischer Weise auf ihrem Eigenvorteil bestehen, sondern auch die
Interessen der anderen beachten". 9
(118) Dieser Maßstab gilt entsprechend auch für die
internationalen Beziehungen. Die heutige globale wechselseitige
Abhängigkeit muß sich in eine weltweite Solidarität
umwandeln, welche die reichen Industrienationen zur Entwicklungshilfe
als Hilfe zur Selbsthilfe und zum Abbau von Protektionismus
verpflichtet. Die Güter der Schöpfung sind für alle
bestimmt. Was menschlicher Fleiß durch Verarbeitung von
Rohstoffen und Arbeitsleistung hervorbringt, muß dem Wohl aller
in gleicher Weise dienen.
(119) So kommt im Grundsatz der Solidarität ein grundlegendes
Prinzip der Gesellschaftsgestaltung zur Geltung. In ihm schlägt
sich die Einsicht nieder, daß in der Gesellschaft alle in
einem Boot sitzen" und daß deshalb ein sozial gerechter
Ausgleich für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben
unerläßlich ist. Dies gilt sowohl im Inneren einer
Gesellschaft wie auch in dem umfassenderen Horizont der Einen
Welt.
(120) Ebenso wie die gleiche Menschenwürde aller die
Einrichtung der Gesellschaft nach dem Grundsatz der Solidarität
verlangt, fordert sie zugleich dazu heraus, der je einmaligen
Würde und damit der Verantwortungsfähigkeit und
Verantwortlichkeit einer jeden menschlichen Person Rechnung zu
tragen. Deshalb wird der Solidarität das Prinzip der
Subsidiarität zur Seite gestellt. Aufgabe der staatlichen
Gemeinschaft ist es, die Verantwortlichkeit der einzelnen und der
kleinen Gemeinschaften zu ermöglichen und zu fördern. Die
gesellschaftlichen Strukturen müssen daher gemäß dem
Grundsatz der Subsidiarität so gestaltet werden, daß die
einzelnen und die kleineren Gemeinschaften den Freiraum haben, sich
eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten. Es muß
vermieden werden, daß die Gesellschaft, der Staat oder auch die
Europäische Union Zuständigkeiten beanspruchen, die von
nichtstaatlichen Trägern oder auf einer unteren Ebene des
Gemeinwesens ebenso gut oder besser wahrgenommen werden könnten.
Auf der anderen Seite müssen die einzelnen wie die kleinen
Gemeinschaften aber auch die Hilfe erhalten, die sie zum
eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln
befähigt.
(121) Diese doppelte Bedeutung der Subsidiarität ist gerade
in der gegenwärtigen Situation in Erinnerung zu rufen. Das
Prinzip der Subsidiarität ernstzunehmen bedeutet, Abschied zu
nehmen von dem Wunsch nach einem Wohlfahrtsstaat, der in
paternalistischer Weise allen Bürgerinnen und Bürgern die
Lebensvorsorge abnimmt. Demgegenüber gilt es, Eigenverantwortung
und Eigeninitiative zu fördern. Es gilt, in den Betrieben wie in
der Gesellschaft die vorhandenen menschlichen Fähigkeiten,
Ideen, Initiativen und soziale Phantasie zum Tragen zu bringen und
die Erneuerung der Sozialkultur zu fördern. Andererseits
entspricht es nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn
man es einseitig als Beschränkung staatlicher Zuständigkeit
versteht. Geschieht dies, dann werden den einzelnen und den kleineren
Gemeinschaften, insbesondere den Familien, Lasten aufgebürdet,
die ihre Lebensmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Gliedern
der Gesellschaft erheblich beschränken. Gerade die
Schwächeren brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität und
Subsidiarität gehören also zusammen und bilden gemeinsam
ein Kriterienpaar zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinne der
sozialen Gerechtigkeit.
3.3.5 Nachhaltigkeit
(122) Die Solidarität bezieht sich nicht nur auf die
gegenwärtige Generation; sie schließt die Verantwortung
für die kommenden Generationen ein. Die gegenwärtige
Generation darf nicht auf Kosten der Kinder und Kindeskinder
wirtschaften, die Ressourcen verbrauchen, die Funktions- und
Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aushöhlen, Schulden
machen und die Umwelt belasten. Auch die künftigen Generationen
haben das Recht, in einer intakten Umwelt zu leben und deren
Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Diese Maxime versucht man
neuerdings mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit und der Forderung nach
einer nachhaltigen, d. h. einer dauerhaften und
zukunftsfähigen Entwicklung auszudrücken.
(123) Die Zielperspektive der Nachhaltigkeit schließt vor
allem die Verantwortung für die Schöpfung ein. Im
biblischen Denken ist diese Dimension der Verantwortung darin
begründet, daß der Mensch Geschöpf unter
Mitgeschöpfen ist (Gen/1. Mos 1-2; Ps 8; 104). Er ist in
eine Schicksalsgemeinschaft mit allen Geschöpfen eingebunden. Es
kommt ihm eine besondere Verantwortung für die übrige
Schöpfung zu. Er soll die Erde bebauen und bewahren
(Gen/1. Mos 2,15), d. h. sie kultivieren und zu einem
bewohnbaren Lebensraum gestalten und sie als solchen bewahren. Die
besondere Stellung des Menschen begründet kein Recht zu einem
willkürlichen und ausbeuterischen Umgang mit der
nicht-menschlichen Schöpfung. Vielmehr nimmt sie den Menschen in
die Pflicht, als Sachwalter Gottes für die geschöpfliche
Welt einzustehen, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend,
haushälterisch und bewahrend mit ihr umzugehen.
(124) In manchen biblischen Texten kommt zum Ausdruck, daß
Heil oder Unheil der Menschen und Frieden oder Unfrieden zwischen
ihnen zugleich Harmonie oder Zerstörung, Frieden oder Unfrieden
für Pflanzen und Tiere wie für die gesamte Natur bedeuten.
Darauf will schon die Erzählung von der Sintflut und von Gottes
Bund mit Noah (Gen/ 1. Mos 6-9) wie die prophetische Vision von einem
messianischen Friedensreich (Jes 11,1-9) hindeuten. Nach Paulus liegt
die gesamte Schöpfung in Wehen und harrt auf das Offenbarwerden
der Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,20-22).
Auch wenn solche biblischen Aussagen kein ökologisches Ethos im
modernen Sinn enthalten, so weisen sie doch auf eine umfassende
Vernetzung aller Wirklichkeitsbereiche hin. Eine menschliche
Gesellschaft kann nur dann zukunftsfähig sein, wenn sie diesem
ökologischen Gesamtzusammenhang Rechnung trägt.
(125) Die christliche Soziallehre muß künftig mehr als
bisher das Bewußtsein von der Vernetzung der sozialen,
ökonomischen und ökologischen Problematik wecken. Sie
muß den Grundgedanken der Bewahrung der Schöpfung mit dem
einer Weltgestaltung verbinden, welche der Einbindung aller
gesellschaftlichen Prozesse in das - allem menschlichen Tun
vorgegebene - umgreifende Netzwerk der Natur Rechnung trägt. Nur
so können die Menschen ihrer Verantwortung für die
nachfolgenden Generationen gerecht werden. Eben dies will der
Leitbegriff einer nachhaltigen, d. h. dauerhaft umweltgerechten
Entwicklung zum Ausdruck bringen.
4. Grundkonsens einer zukunftsfähigen
Gesellschaft
(126) Die im vorausgegangenen Abschnitt aus biblischer Botschaft
und christlichem Glauben entwickelten ethischen Perspektiven sind die
Grundlage für den Beitrag der Kirchen zur Fortentwicklung einer
menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung
von Gesellschaft und Staat. Diese Perspektiven und
Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate, sondern
Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nicht durch
vermeintliche Sachzwänge oder durch kurzfristige Interessen irre
machen läßt. Sie können in der christlich
geprägten europäischen Kultur auch von Nichtchristen
akzeptiert werden und tragen damit zur Wiedergewinnung des ethischen
Grundkonsenses bei, auf den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
angewiesen sind. Er droht gegenwärtig verloren zu gehen und
muß unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu
gefunden werden. Erst ein solcher Grundkonsens ermöglicht eine
Verständigung unter den Bürgerinnen und Bürgern
über die wichtigsten Perspektiven einer zukunftsfähigen
Gesellschaft und eröffnet Wege zur Bewältigung der
bedrängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme.
(127) Grundkonsens meint nicht Harmonie, sondern ein ausreichendes
Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender
Gegensätze. Je komplexer die gesellschaftlichen
Verhältnisse werden, desto breiter wird das Feld offener
Entscheidungen, wo die Meinungen aufeinanderprallen und
schließlich Mehrheiten oder oberste Gerichte entscheiden. Zu
vielen Fragen gibt es keinen wirklichen Konsens in der
Bevölkerung, sondern nur ein Hinnehmen von Kompromissen. Um so
wichtiger wird jedoch eine Übereinstimmung über bestimmte
Grundelemente der sozialen Ordnung, auf deren Grundlage dann
geregelte Verfahren entwickelt werden können, um die
unterschiedlichen Überzeugungen und Lagebeurteilungen
miteinander zu einem Ausgleich zu bringen und Entscheidungen zu
ermöglichen, mit denen alle Beteiligten leben können.
(128) Während früher Gesellschaftsformen nach
außen abgegrenzt und aus kleinen Einheiten übersichtlich
zusammengesetzt waren, sind moderne Gesellschaften durch das komplexe
Zusammenwirken einer Vielzahl institutioneller Teilordnungen
unterschiedlicher Reichweite gekennzeichnet, welche verschiedene
Leistungen hervorbringen und unterschiedliche Anforderungen an die
Handelnden stellen. Hier genügt es nicht mehr, allein das
Handeln von Personen einer ethischen Beurteilung zu unterziehen. Zu
bedenken sind ebenso die Regeln und Bedingungen, unter denen das
Handeln der Individuen sich vollzieht und bestimmte Wirkungen
zeitigt. Inwieweit die Würde aller Menschen respektiert wird,
wie groß die sozialen Ungleichheiten sind und inwieweit die
natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt oder ausgebeutet werden,
ist nicht nur eine Frage des individuellen guten Willens, sondern vor
allem der rechtlichen, ökonomischen und sozialen
Verhältnisse, unter denen Menschen ihr Leben führen. Sie
bilden daher den primären Gegenstand einer Besinnung über
die Grundlagen einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
(129) Die neuzeitlichen Ideen über das menschliche
Zusammenleben haben die Möglichkeit eröffnet, daß
Menschen mit unterschiedlichen Bekenntnissen, Absichten und
Bedürfnissen zum friedlichen Miteinander in Freiheit und
Toleranz finden. Auf diesen Ideen beruhen die Leitbilder der offenen,
pluralistischen Gesellschaft, des demokratischen Rechts- und
Sozialstaates und der auf Freiheit, Wettbewerb und sozialer
Verantwortung aufgebauten Sozialen Marktwirtschaft. Sie prägen
seit langem die westliche Gesellschaft, werden indes zunehmend auch
weltweit bestimmend. So historisch wirkmächtig diese Ideen auch
sind, ihre Verwirklichung beruht doch auf ethischen Voraussetzungen,
die sie selbst nicht gewährleisten können. Die Demokratie
kann ohne den moralischen Grundkonsens allgemeiner Menschenrechte und
ohne Anerkennung der Rechtsordnung nicht gedeihen, und die
Marktwirtschaft bleibt auf die Zuverlässigkeit und
Rechtschaffenheit der Wirtschaftssubjekte ebenso angewiesen wie auf
die nicht ökonomisch zu organisierende Erziehung der Kinder und
Jugendlichen. Zudem bedürfen auch freie Menschen nicht nur
politischer Rechte und wirtschaftlicher Güter, sondern vor allem
der Möglichkeiten, ihr Leben eigenverantwortlich und sinnvoll zu
gestalten, Mitmenschlichkeit zu gewähren und zu erfahren sowie
in ihren persönlichen Qualitäten anerkannt zu werden. Das
ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die
ökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und
sozialen Zusammenhänge menschlichen Lebens zu
vernachlässigen. Die sozialethischen Traditionen der
christlichen Kirchen betonen demgegenüber das Ganze, die
unverrechenbare Einheit menschlicher Lebenshoffnungen und die
Vielfältigkeit der menschlichen Rechte und Pflichten.
4.1 Menschenrechte
(130) Nach christlichem Verständnis sind die Menschenrechte
Ausdruck der Würde, die allen Menschen auf Grund ihrer
Gottebenbildlichkeit zukommt. Die Anerkennung von Menschenrechten
bedeutet gleichzeitig die Anerkennung der Pflicht, auch für das
Recht der Mitmenschen einzutreten und deren Rechte als Grenze der
eigenen Handlungsfreiheit anzuerkennen. Von der Verwirklichung der
Menschenrechte kann nur dann gesprochen werden, wenn die staatliche
Rechtsordnung die elementaren Rechte jedes Menschen unabhängig
von seinem Geschlecht, seiner Herkunft oder seinen individuellen
Merkmalen schützt und diese Ordnung von allen Beteiligten
anerkannt wird. Die Pflicht zur Anerkennung und zum Einsatz für
die Menschenrechte endet jedoch nicht an den Staatsgrenzen. Eine die
Idee der Menschenrechte verwirklichende Gesellschaftsordnung wird
erst erreicht sein, wenn diese Rechte weltweit anerkannt und
geschützt werden. Davon sind wir noch weit entfernt.
(131) Die Entdeckungsgeschichte" der Menschenrechte zeigt,
daß sie stets in Reaktion auf elementare Unrechts- und
Leiderfahrungen formuliert worden sind. Wo Menschen für die
Leiden ihrer Mitmenschen wahrnehmungsfähig werden, beginnen sie
zu fragen, auf welchen strukturellen Voraussetzungen solches Leid
beruht und ob man ihm durch die Umgestaltung derjenigen sozialen und
politischen Verhältnisse, die dieses Leid erzeugen oder
begünstigen, abhelfen kann. Weil die Bedeutung
menschenrechtlicher Sicherungen erst dann voll erfaßbar wird,
wenn man die Konsequenzen ihrer Beeinträchtigung erfährt,
sind menschenrechtliche Mindestanforderungen stets
verbesserungsbedürftig. Der geschichtliche
Entwicklungsprozeß macht eine kontinuierliche Fortentwicklung
des Menschenrechtsschutzes notwendig.
(132) Dabei haben sich vor allem drei Arten von Menschenrechten
herauskristallisiert:
- zum einen individuelle Freiheitsrechte, die den Schutz gegen
Eingriffe Dritter oder des Staates in den Bereich
persönlicher Freiheit gewährleisten: Religions-,
Gewissens- und Meinungsfreiheit; Recht auf faire
Gerichtsverfahren; Schutz der Privatsphäre und von Ehe und
Familie; Freiheit der Berufstätigkeit und
Freizügigkeit;
- zum anderen politische Mitwirkungsrechte, die
Möglichkeiten eröffnen, selbst auf das öffentliche
Leben Einfluß zu nehmen: Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit, aktives und passives Wahlrecht,
Pressefreiheit;
- schließlich wirtschaftlich-soziale und kulturelle
Grundrechte, die den Anspruch auf Teilhabe an den
Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft begründen und
Chancen menschlicher Entfaltung sichern: Recht auf Bildung und
Teilnahme am kulturellen Leben, Recht auf Arbeit und auf faire
Arbeitsbedingungen, Recht auf Eigentum, Recht auf soziale
Sicherung und Gesundheitsversorgung, auf Wohnung, Erholung und
Freizeit.
Die Gewährleistung dieser drei Arten von Rechten ist von
unterschiedlichen Bedingungen abhängig. Umstritten ist
insbesondere, inwieweit die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Anspruchsrechte durch staatliche Maßnahmen
gewährleistet werden können und sollen. Auf jeden Fall
haben die Staaten die Verpflichtung, sich für die Realisierung
dieser Rechte einzusetzen.
(133) Die Wahrnehmung der individuellen Grundrechte (z. B.
Freiheit der Berufswahl) wird in vielen Fällen erst möglich
durch soziale Teilhabechancen (z. B. öffentliche Bildung).
Die für eine dynamische Wirtschaft und Gesellschaft nötige
individuelle Lern-, Anpassungs-, Mobilitäts- und
Wagnisbereitschaft wird durch eine Absicherung gegen elementare
Lebensrisiken gefördert. Die Einrichtungen des Sozialstaates,
die soziale Sicherung und das öffentliche Bildungs-,
Gesundheits- und Sozialwesen haben sich daher zu einem konstitutiven
Element der westlichen Gesellschaftsordnung entwickelt. Ihnen wird
ein eigenständiger moralischer Wert zugesprochen, da sie das
solidarische Eintreten für sozial gerechte Teilhabe aller an den
Lebensmöglichkeiten verkörpern. Der Sozialstaat darf
deshalb nicht als ein nachgeordnetes und je nach
Zweckmäßigkeit beliebig zu verschlankendes"
Anhängsel der Marktwirtschaft betrachtet werden. Er hat vielmehr
einen eigenständigen moralischen Wert und verkörpert
Ansprüche der verantwortlichen Gesellschaft und ihrer zu
gemeinsamer Solidarität bereiten Bürgerinnen und
Bürger an die Gestaltung des ökonomischen Systems. Dessen
dauerhafte Leistungsfähigkeit und wachsender Ertrag sind
wiederum Voraussetzungen dafür, daß die Einrichtungen des
Sozialstaats finanzierbar bleiben.
(134) Die Verwirklichung der Grundsätze von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit gelingt in der Praxis
meist nur mit Einschränkungen. Nicht alle
Bevölkerungsgruppen vermögen sich gleichermaßen zu
organisieren und ihre Anliegen in die politischen Prozesse
einzubringen. Nicht alle haben den gleichen Zugang zu Informationen.
Dadurch entstehen dauerhafte Unterschiede der politischen und
wirtschaftlichen Machtverteilung. Es sind vor allem Arbeitslose,
Arme, Familien, Ausländer und Jugendliche sowie die mehrfach
Benachteiligten, die es schwerer haben als andere, ihre Rechte im
Rahmen eines immer komplizierter werdenden Rechtssystems
einzufordern. Ohne kompetente Rechtsberatung und -vertretung vor
Behörden und Gerichten, oft aber auch schon im Verhältnis
zu anderen Privatpersonen lassen sich die durch die Rechtsordnung
eingeräumten Chancen nicht wahrnehmen. Selbst im Bereich der
sozialen Einrichtungen ist keineswegs gewährleistet, daß
deren Leistungen in erster Linie den Bedürftigsten zukommen.
Auch hier erreichen diejenigen mehr, die ihre Interessen wirksam zur
Geltung zu bringen vermögen.
(135) Die christliche Option für die Armen, Schwachen und
Benachteiligten besteht gegenüber diesen Tendenzen auf der
Pflicht der Starken, sich der Rechte der Schwachen anzunehmen. Dies
liegt auch im langfristigen Interesse des Gemeinwesens und damit auch
der Starken. Eine Gesellschaft, welche die nachwachsende Generation
und deren Eltern vernachlässigt, stellt ihre eigene Zukunft aufs
Spiel. Wer Arbeitslose und Ausländer ausgrenzt, verzichtet auf
die Inanspruchnahme ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen. Und wenn
chronisch Kranken und Behinderten kein menschenwürdiges Leben
ermöglicht wird, werden damit elementare Maßstäbe des
Zusammenlebens in der Gesellschaft in Frage gestellt.
4.2 Freiheitlich-soziale Demokratie
(136) Aus den anerkannten und geschützten Menschenrechten
folgen Leitbilder für die staatliche Ordnung, die sich das
deutsche Volk in Verantwortung vor Gott und den Menschen"
(Präambel des Grundgesetzes) gegeben hat. Danach sind
Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Föderalismus die
grundlegenden Staatsstrukturprinzipien. Sie finden im deutschen
Grundgesetz ihren Ausdruck in den Artikeln 1 bis 20, die den Kern der
Verfassung ausmachen. In Artikel 1 werden der Grundsatz der
Menschenwürde und das Bekenntnis zu den unverletzlichen
und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der
Welt" festgeschrieben.
(137) Das Verständnis der Bundesrepublik Deutschland als
freiheitlich-soziale Demokratie bildet unverändert die Grundlage
für einen dauerhaften Grundkonsens. Demokratie ist dabei als
eine Form staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Integration
zu verstehen, in der soziale Konflikte in gewaltfrei geregelten,
öffentlichen Prozessen der Meinungsbildung und
Entscheidungsfindung ausgetragen werden. Wesentlich für die
Demokratie ist daher die - zum Teil repräsentativ vermittelte -
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Regelung
aller sie betreffenden Angelegenheiten. Die Kennzeichnung der
Demokratie als soziale" betont, daß diese Beteiligung
aller Bürgerinnen und Bürger nicht nur formal durch den
Rechtsstaat, sondern auch materiell durch den Sozialstaat gesichert
werden muß. Als freiheitlich" gilt die Demokratie auch
dann, wenn sie um der Freiheit aller willen relative Ungleichheiten
hinnimmt, solange diese nicht zur Basis für politische
Unterdrückung und Ausbeutung werden.
(138) In der Demokratie ist die Öffentlichkeit das Forum der
politischen Willensbildung. Das Streben nach Einmütigkeit und
Eindeutigkeit und das menschliche Verlangen nach Harmonie stehen in
Spannung zu Vielfalt, Freiheit und Wettbewerb der Meinungen und dem
damit notwendig verbundenen politischen Streit. Ihm muß um der
Freiheit willen Raum gegeben werden. Die Demokratie braucht das Forum
einer breiten und informierten Öffentlichkeit, die den
Einfluß der Parteien kritisch begleitet und begrenzt.
Längst ist die Rolle der öffentlichen Medien wegen ihrer
großen Bedeutung für die politische Willensbildung und
Kultur umstritten und umkämpft. Sie können Institutionen
wachsamer Kontrolle der Machtausübung, sie können aber auch
einflußreiche Instrumente der Manipulation sein. Ihre innere
und äußere Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre
Vielfalt zu gewährleisten ist deshalb ein konkretes Gebot
für die freiheitliche Demokratie. Auch in der öffentlichen
Meinung ist Vielstimmigkeit und Pluralität eine Grundbedingung
für den demokratischen Prozeß.
(139) Für den Staat bedeutet der Wert Freiheit" nicht
nur eine Begrenzung seiner Einflußmöglichkeiten und
Eingriffsrechte. Die Verpflichtung aller Beteiligten, in den
Arbeitsbeziehungen die Würde des anderen zu achten, erfordert
staatliche Gesetze und tarifvertragliche Vereinbarungen zum
Arbeitsschutz. Die unternehmerische Freiheit erfordert staatliche
Regelungen zum Schutz des Wettbewerbs. Die Freiheit der Verbraucher
(Konsumentensouveränität") erfordert angesichts
asymmetrischer Informationsverteilung und der Möglichkeit
psychischer Beeinflussung durch Werbung staatliche Gesetze zum
Verbraucherschutz und Maßnahmen zur Verbraucheraufklärung.
Eine Gesellschaft, die Freiheit als gebundene Freiheit"
versteht und die Würde des anderen auch in den Marktbeziehungen
achtet, wird dieses Freiheitsverständnis durch umfassende
Rahmenbedingungen zum Ausdruck bringen.
(140) Gegenwärtig wird der Staat zunehmend mit der Erwartung
konfrontiert, die Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung
zu übernehmen, wobei der hierzu erforderliche Sachverstand und
die notwendige Unterstützung von Verfahren der öffentlichen
Meinungsbildung und Konfliktaustragung erwartet werden. Dabei wird
unterstellt, daß in diesen Verfahren alle zu
berücksichtigenden Interessen zur Geltung kommen und sich die
überzeugendsten Argumente durchsetzen. Diesem Ziel entspricht
die politische Wirklichkeit ebensowenig wie die wirtschaftliche
Wirklichkeit dem Ideal des vollkommenen Wettbewerbs. Die
Schwerfälligkeit von Gesetzgebungsprozessen, das
bürokratische Eigeninteresse von Verwaltungen, die ungleichen
Chancen der Bürgerinnen und Bürger, sich politisch und
rechtlich Gehör zu verschaffen, aber auch die oft
ungenügende Absehbarkeit der Folgen bestimmter politischer
Entscheidungen sind offensichtliche Grenzen demokratisch
legitimierter Regierungen.
(141) Regionale und lokale Unterschiede können auf
gesamtstaatlicher Ebene nur ungenügend berücksichtigt
werden. Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung sollen dem
nach dem Willen des Grundgesetzes in Deutschland entgegenwirken.
Dadurch entstehen jedoch zusätzliche Schwierigkeiten in
politischen Verfahren, sobald die Interessen der verschiedenen
Entscheidungsebenen miteinander verflochten sind. Nicht nur wegen
dieser Schwierigkeiten, sondern mehr noch aus dem Verständnis
der Subsidiarität staatlichen Handelns und angesichts der Gefahr
einer bürokratischen Fehlentwicklung des Staates ist die
Erwartung einer umfassenden staatlichen Steuerung gesellschaftlicher
Prozesse kritisch zu befragen. Jedenfalls in der deutschen und der
europäischen Perspektive kann es angesichts der bestehenden
Regelungsdichte nicht darum gehen, diese noch zu steigern. Vielmehr
ist es nötig, die Kräfte der gesellschaftlichen
Selbststeuerung und Selbstverwaltung zu stärken.
4.3 Ökologisch-soziale Marktwirtschaft
(142) Marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien sind ein
unverzichtbares Element bürgerlicher Freiheit und die Bedingung
innovativen unternehmerischen Handelns. Ihnen verdanken moderne
Gesellschaften eine effiziente Versorgung, ihren technischen
Fortschritt und ihr Wirtschaftswachstum, aber auch einen Teil ihrer
Probleme. Kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip vermag
derzeit besser den ökonomischen Ressourceneinsatz und die
Befriedigung der Konsumentenwünsche zu gewährleisten als
ein funktionierender Wettbewerb. Unternehmer, die sich mit ihrem
Kapitaleinsatz und ihrer Entscheidungsfreudigkeit den Risiken des
Wettbewerbs aussetzen und dabei Arbeitsplätze und Güter
schaffen, verdienen auch unter ethischen Gesichtspunkten hohe
Anerkennung. Allerdings stellen sich optimale Wettbewerbsbedingungen
nicht von selbst ein, sie sind vielmehr von staatlichen
Rahmensetzungen abhängig. Unternehmen neigen dazu, sich dem
Druck des Wettbewerbs durch Zusammenschlüsse oder andere Formen
der Marktmacht, beispielsweise Kartellbildung, zu entziehen. Dem ist
mit einer Wettbewerbsordnung entgegenzuwirken. Bedingung dafür,
daß Wettbewerb zu leistungs- und bedarfsgerechten Ergebnissen
führt, ist ein Marktgleichgewicht zwischen Anbietern und
Nachfragern. Wo dieses strukturell fehlt, wie z. B. bei
Arbeitsuchenden unter den Bedingungen eines Defizits an
wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen oder bei
Einzelkonsumenten im Verhältnis zu marktbeherrschenden
Großunternehmen, läßt es sich durch den Markt selbst
nicht herstellen. Hierzu bedarf es entweder staatlicher
Rahmenbedingungen (Arbeitsschutz, Konsumentenschutz) oder
solidarischer Selbstorganisation (Gewerkschaften,
Konsumentenverbände). Zudem vermag die Marktwirtschaft das
Problem des Lebensunterhalts derjenigen nicht zu lösen, die
keine Erwerbsarbeit übernehmen können.
(143) Das Grundgesetz hat die Frage nach der Wirtschaftsordnung
zwar offen gelassen. Jedoch wurde ein Grundkonsens darüber
erzielt, daß nur eine bewußt sozial gesteuerte
Marktwirtschaft" (A. Müller-Armack), deren Konzept wesentlich
von der Sozialethik der Kirchen beeinflußt wurde, in Betracht
kommen kann. Hierunter wird eine staatlich gewährleistete
Wirtschaftsordnung verstanden, die auf den Prinzipien eines in seinem
Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentums
(Art. 14 Abs. 2 GG), eines funktionierenden Wettbewerbs und der
sozialstaatlichen Absicherung der Einkommen der
Nicht-Erwerbstätigen beruht. Zu den Institutionen, die diese
Prinzipien gewährleisten sollen, gehören u. a. die
Betriebs- und Unternehmensverfassung einschließlich der
Mitbestimmung der Arbeitnehmer, das System der Tarifautonomie, die
Arbeitsschutzgesetzgebung, ein System sozialer Sicherung, freie
Berufs- und Arbeitsplatzwahl, das Recht auf Eigentum und seine
Sozialpflichtigkeit, Wettbewerbsschutz, Arbeits- und
Wohnungsmarktpolitik. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft
stellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher
Freiheit und sozialem Ausgleich dar. Als sozial" gilt sie, weil
sie auf Dauer einen sozial gerechten Ausgleich und die Beteiligung
und Teilhabe eines jeden Menschen - auch des
Nicht-Erwerbstätigen - nach seinem Vermögen an dem
gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben zum Ziel
hat. Gleichzeitig wird die Gewährleistung fairer
Arbeitsbedingungen in die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern gestellt. Wesentlich für das Verständnis
der Sozialen Marktwirtschaft ist, daß wirtschaftlicher Erfolg
und sozialer Ausgleich als gleichrangige Ziele und jeweils der eine
Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen
begriffen werden. In Westdeutschland war die marktwirtschaftliche
Effizienz gemeinsam mit dem sozialen Ausgleich zwischen den sozialen
Gruppen und Schichten bisher Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges,
der einen Ausbau der sozialstaatlichen Einrichtungen auf einem im
internationalen Vergleich hohen Niveau ermöglichte. Die
Verteilung der Zuwächse des Sozialprodukts wurde - auch wenn im
Streit errungen - allgemein als gerecht empfunden, ebenso das sich
einspielende Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifparteien und
die Schaffung von Wirtschaftsbürgerrechten
(Mitbestimmungsrechten) in der Betriebs- und
Unternehmensverfassung.
(144) In den neuen Bundesländern gingen mit der schockartigen
Umstellung von einer Zentralverwaltungswirtschaft, die eine
zerrüttete Infrastruktur, einen Berg von Altschulden und
international nicht wettbewerbsfähige Betriebe hinterlassen
hatte, auf marktwirtschaftliche Bedingungen eine extrem hohe
Arbeitslosigkeit und eine schnelle, bis dahin unbekannte Einkommens-
und Vermögensdifferenzierung einher. Aufgrund dieser
Entwicklung, der oft schmerzlichen Rückgabe von Häusern,
Grundstücken und Unternehmen an die früheren
Eigentümer und oft auch unlauterer Geschäftspraktiken
empfinden viele Bürgerinnen und Bürger der neuen
Bundesländer die neue Wirtschaftsordnung als sozial nicht
gerecht. Das Konzept Soziale Marktwirtschaft hat dadurch für
viele an Vertrauen verloren.
(145) Es ist aber kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die
komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial
abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die
Soziale Marktwirtschaft. Gleichwohl ist eine unvoreingenommene
Auseinandersetzung mit den gegen sie vorgebrachten kritischen
Einwendungen unerläßlich. Die Verwirklichung der Sozialen
Marktwirtschaft im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg
beruhte auf mindestens vier Voraussetzungen, die heute in dieser Form
nicht mehr gegeben sind:
- Der die Vollbeschäftigung gewährleistende Kreislauf
von wachsenden Unternehmenserträgen,
produktivitätssteigernden Investitionen, steigenden
Löhnen und wachsender Massenkaufkraft funktioniert nicht mehr
wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Weil
damit zugleich die Konvergenz von wirtschaftlichem Erfolg und
sozialem Ausgleich problematisch zu werden droht, wird die
Gleichrangigkeit dieser beiden Ziele mittlerweile häufig
bestritten. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit hat sich zu
Lasten des Faktors Arbeit verschoben; das Gewicht der
Kapitaleinkommen nimmt gegenüber den Arbeitseinkommen
zu.
- Die Sozialordnung zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland
ging noch von einer Familienstruktur aus, in der nur ein Partner
erwerbstätig ist. Dementsprechend wurde dauerhafte
Vollzeiterwerbstätigkeit nur für das männliche
Geschlecht vorausgesetzt, wobei der Lohn zum Unterhalt einer
Familie mit zwei Kindern ausreichen sollte. Die wachsende
Nachfrage nach Arbeitskräften seit den 60er Jahren hat in
Verbindung mit der zunehmenden Qualifizierung der Frauen zu einem
tiefgreifenden Einstellungswandel geführt, welcher für
die meisten jungen Frauen die Verbindung von Familien- und
Erwerbstätigkeit zu einem neuen Leitbild hat werden
lassen.
- Die Soziale Marktwirtschaft im Westen Deutschlands war in
starkem Maße nationalstaatlich geprägt. Der
Prozeß der Globalisierung erschwert nun jedoch solche
nationalstaatlich geprägten Marktwirtschaften, die auf eine
starke Kooperation und Integration von Ökonomie, Sozialsystem
und Kultur abheben. Je größer die Räume des freien
Handels und je ungebundener die Handlungsmöglichkeiten der
transnationalen Unternehmen werden, desto stärker wird das
Ordnungsmodell Soziale Marktwirtschaft gefährdet. Die
stabilisierenden Möglichkeiten des Staates nehmen dabei
deutlich ab.
- Das extensive Wachstum der Volkswirtschaft hat zu einer
Erhöhung des Energieverbrauchs und der Umweltbelastungen
geführt, welche gerade in einem dicht besiedelten Land wie
Deutschland die Lebensqualität zu verschlechtern drohen. Erst
in den 70er Jahren wurde allgemein bewußt, daß das
allseits erwünschte Wirtschaftswachstum mit einer zu hohen
Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen und einer
überhöhten Belastung der Umwelt durch Schadstoffe
erkauft worden ist.
(146) Für diese neuen Herausforderungen vermag ein Modell
Marktwirtschaft pur" keine zureichenden Antworten zu bieten.
Mit einer Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer
gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische
Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das
im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit
gefährdet werden. Zudem wäre es gesamtwirtschaftlich fatal,
wenn vernachlässigt würde, daß einzelwirtschaftliche
Aktivitäten auf unentgeltlich erbrachte gesamtgesellschaftliche
Vorleistungen" (z. B. Lernbereitschaft,
Anpassungsfähigkeit, Bereitschaft zur Betriebsloyalität)
sowie auf kaufkräftige Nachfrage und langfristige
Sparbereitschaft angewiesen sind. Deshalb ist die Vorstellung, die
anstehenden Probleme ließen sich durch eine bloße
Anpassung an internationale Wettbewerbsbedingungen und allein schon
durch eine Senkung der Lohnkosten lösen, realitätsfern.
Ebensowenig freilich reicht es aus, an allem Bestehenden festzuhalten
und jeden sozialen Besitzstand zu verteidigen.
(147) In der Zukunft kann der soziale Ausgleich nicht mehr in
gleicher Weise wie bisher aus den Zuwächsen des Volkseinkommens
bestritten werden. Die Flexibilisierung der Produktionsbedingungen
und die Notwendigkeit der sozialen Absicherung derer, die durch die
wirtschaftlichen Veränderungen aus dem Arbeitsleben
gedrängt werden, haben Folgen für die sozialen
Besitzstände. Zu den veränderten Bedingungen gehören
außerdem die Pluralisierung der Lebensstile sowie der
berechtigte Anspruch der Frauen, Erwerbsarbeit und Familienarbeit
gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen. Die regionalen
Folgen der weltwirtschaftlichen Vernetzungen fordern überdies
eine den Globalisierungstendenzen Rechnung tragende Ausdehnung der
wirtschaftspolitischen Verantwortung.
(148) Schließlich machen die wachsenden Umweltbelastungen
eine ökologische Umgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft
erforderlich. Jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzung um
Tempo und Wege einer solchen ökologischen Erneuerung besteht
über deren Notwendigkeit überwiegend Einigkeit. Die
deutsche Gesellschaft kann nur dann den Erfordernissen nachhaltiger
Entwicklung gerecht werden, wenn es ihr gelingt, sich in ihrem
natürlichen Handlungsrahmen so einzurichten, daß die
berechtigten Interessen der kommenden Generationen und der Menschen
auf anderen Kontinenten nicht verletzt werden. So wie die historische
Erfahrung gezeigt hat, daß sich eine gerechte soziale
Verteilung nicht von alleine aus der Dynamik des Marktes ergibt,
dieser vielmehr durch eine soziale Rahmenordnung ergänzt werden
muß, so ist auch die Bewältigung der ökologischen
Problemfelder nicht aus der inhärenten Dynamik der Sozialen
Marktwirtschaft zu leisten. Ging es in der sozialen Frage"
letztlich um ein Verteilungsproblem, so weist die
ökologische Frage" auf den Gesamtrahmen des zu
Verteilenden hin. Die bisherigen Ziele der Marktwirtschaft
müssen sich in Zukunft vor allem daran messen lassen, ob sie
auch den nächsten Generationen eine lebenswerte Zukunft
ermöglichen. Dies erfordert, daß
Umweltqualitätsziele, also die ökologische Komponente, als
ein eigenständiger Zielfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung
beachtet werden. Mit einer ökologischen Nachbesserung des
Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan. Notwendig
ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialen
Marktwirtschaft insgesamt.
(149) Für die Gestaltung der Ordnung einer modernen
Gesellschaft sind die folgenden Elemente in gleicher Weise
unverzichtbar und von eigenständiger Bedeutung:
- persönliche Verantwortung und unternehmerische
Initiative,
- der Markt als ein effektives Mittel, um durch
leistungsgerechte Entgelte und Gewinne Wohlstand zu schaffen,
- eine soziale Rahmenordnung, die unter Beachtung der Prinzipien
der Solidarität und Subsidiarität die Bevölkerung
im Blick auf die elementaren Lebensrisiken sichert und für
sozialen Ausgleich sowie Chancengerechtigkeit sorgt,
- ein Steuersystem, das der Finanzierung der erforderlichen
Infrastruktur und Staatsaufgaben, der Förderung von Wachstum
und Beschäftigung und einer sozial gerechten und ausgewogenen
Verteilung dient,
- die Erhaltung der Stabilität der Währung,
- die Beachtung neuer internationaler Herausforderungen und ihre
verantwortliche Gestaltung,
- die Rückbindung des sozioökonomischen Systems an die
Regenerationsraten und Zeitrhythmen der ökologischen Systeme
und schließlich
- solidarisches Verhalten als Voraussetzung von Wertbindung,
Vertrauen und Loyalität.
(150) Aus dieser Perspektive zeigt sich auch das weithin
akzeptierte Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse in
Ost- und Westdeutschland in einem anderen Licht. Häufig wird
darunter eine Anhebung des Produktions-, Konsum- und
Infrastrukturniveaus in den neuen Bundesländern auf
Weststandard" verstanden. Das Grundgesetz aber meint mit dem
Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" die
Überwindung von Benachteiligungen von Regionen und die
Herstellung von Chancengerechtigkeit. In Deutschland soll es keine
benachteiligten Gebiete geben. Es geht darum, daß sich beide
Teile Deutschlands im Prozeß des Zusammenwachsens deutlich
umorientieren müssen, um den Erfordernissen einer
zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen.
4.4 Menschenrecht auf Arbeit und neues
Arbeitsverständnis
(151) Auch in Zukunft wird die Gesellschaft dadurch geprägt
sein, daß die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen den
bei weitem wichtigsten Zugang zu eigener Lebensvorsorge und zur
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schafft. In einer solchen
Gesellschaft wird der Anspruch der Menschen auf Lebens-, Entfaltungs-
und Beteiligungschancen zu einem Menschenrecht auf Arbeit. Wenngleich
dieses ethisch begründete Anrecht auf Erwerbsarbeit nicht zu
einem individuell einklagbaren Anspruch werden kann, verpflichtet es
die Träger der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Tarif- und
Sozialpolitik, größtmögliche Anstrengungen zu
unternehmen, um die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu
gewährleisten. Dabei geht es um mehr als entlohnte
Beschäftigung. Vielmehr muß die Entlohnung in Verbindung
mit den staatlichen Steuern, Abgaben und Transfers auch ein den
kulturellen Standards gemäßes Leben ermöglichen.
Zudem müssen Mitbestimmungsregelungen und humane
Arbeitsbedingungen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
persönliche Entfaltungs- und Beteiligungschancen
einräumen.
(152) Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit
unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist
für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen
Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen. Menschliche
Arbeit ist nicht notwendigerweise Erwerbsarbeit. Unter dem
Einfluß der Industrialisierung hat sich das Leitbild von Arbeit
allerdings auf Erwerbsarbeit verengt. Je mehr jedoch die mit dem
technischen Fortschritt einhergehende Steigerung der
Arbeitsproduktivität ein Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger
Verringerung der Arbeitsplätze ermöglicht, desto
fragwürdiger wird die Verengung des Arbeitsbegriffs auf
Erwerbsarbeit. Deshalb kann die Gesellschaft dadurch humaner und
zukunftsfähiger werden, daß auch unabhängig von der
Erwerbsarbeit die Chancen für einen gesicherten Lebensunterhalt,
für soziale Kontakte und persönliche Entfaltung erhöht
werden. Insbesondere muß das System der sozialen Sicherheit
darauf eingestellt werden, daß der Anteil kontinuierlicher
Erwerbsbiographien abnimmt und daß mit der Pluralisierung der
Lebensstile immer mehr Menschen zwischen Phasen der ganztägigen
Erwerbsarbeit, des Teilzeiterwerbs und der Haus- und Familienarbeit
wechseln.
(153) Eine Soziale Marktwirtschaft ist heute nicht mehr durch
Normalarbeitsverhältnisse" der Männer und eine nur
indirekte materielle Versorgung und Absicherung der Frauen und Kinder
zu verwirklichen. Jenseits konkreter Verteilungskonflikte zwischen
den Geschlechtern steht die Gleichstellung von Frauen und
Männern in der Bevölkerung heute nicht mehr in Frage.
Wesentlich für die Gleichstellung ist, daß in Zukunft die
Frauen einen gerechten Anteil an der Erwerbsarbeit erhalten und die
Männer einen gerechten Anteil an der Haus-, Erziehungs- und
Pflegearbeit übernehmen. Dieses Ziel wird nur schrittweise zu
erreichen sein. Um so notwendiger ist es, die Haus-, Erziehungs- und
Pflegearbeit und den ehrenamtlichen Dienst gesellschaftlich
aufzuwerten und Benachteiligungen, z. B. bei den sozialen
Sicherungssystemen, im Maße des finanziell Machbaren
abzubauen.
(154) Leistungsansprüche, Zeitdruck und kurzfristiges
Effizienzdenken sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das hat
Folgen für die Arbeitsbedingungen in zahlreichen
Tätigkeitsfeldern. Zugleich steigen die Ansprüche an das
Privatleben als Gegenwelt und flexible Ergänzung der
Erwerbsarbeit. Die Lebensqualität vieler Beschäftigter wird
beeinträchtigt. Stärker noch werden die Lebens- und
Entfaltungsmöglichkeiten derer eingeschränkt, die in der
schnellebigen Gesellschaft nicht mithalten können. Um so
wichtiger erscheint angesichts dieser Entwicklung das Ziel, die
Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt kinder- und
familienfreundlicher zu gestalten. Neben einer Verbesserung der
Einkommen von Familien geht es hier u. a. um eine Erhöhung der
Zeitsouveränität der Beschäftigten und um die
kindergerechte Gestaltung städtischer und ländlicher
Lebensräume sowie um die Bereitstellung bedarfsgerechten und
bezahlbaren Wohnraums für Familien mit Kindern durch
wohnungspolitische Maßnahmen.
(155) Wenn die Volkswirtschaft unter den gegenwärtigen
Bedingungen nicht mehr in der Lage ist, alle erwerbsbereiten Menschen
zu beschäftigen, und gleichzeitig eine Auszehrung der
unentgeltlichen und im Gemeinwohlinteresse unerläßlichen
Tätigkeiten droht, so stellt sich der Politik
einschließlich der Tarifpolitik die Aufgabe, hier entschieden
gegenzusteuern. Sonst führt dies zu einer Vergeudung
menschlicher Fähigkeiten und zu einem Verlust an Humanität
in der Gesellschaft. Es geht einerseits um eine stärkere
politische und soziale Anerkennung der Tätigkeiten
außerhalb der Erwerbsarbeit als einem unersetzlichen Beitrag
für die Gesellschaft. Und es geht andererseits um eine Hilfe
beim Tragen der Lasten, welche Menschen unter den gegenwärtigen
Bedingungen mit der Übernahme familialer Verantwortung auf sich
nehmen. Es gibt nicht nur eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums,
sondern auch eine Sozialpflicht des einzelnen.
4.5 Chancen und Formen der Solidarität
in einer erneuerten Sozialkultur
(156) Die bisherigen öffentlichen Diskussionen orientieren
sich fast ausschließlich am Spannungsverhältnis von
Marktwirtschaft und Sozialstaat. Vielfach schwingt dabei auch noch
der ordnungspolitische Antagonismus Planwirtschaft" versus
Marktwirtschaft" aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Wenn
Märkte an ihre Grenzen stoßen, sucht man das Heil beim
Staat. Versagt der Staat, so fordert man mehr Markt, Privatisierungen
und Deregulierungen. Über diesem Dualismus droht in
Vergessenheit zu geraten, daß gesellschaftliche Gruppen und
Institutionen, die weder dem Staat noch dem Bereich des Marktes
zuzuordnen sind, einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung
der gesellschaftlichen Wohlfahrt leisten. Hierzu gehören in
erster Linie die Familien (Haushalte und Verwandtennetze), aber auch
die gemeinnützigen Einrichtungen, Formen assoziativer
Selbsthilfe - beispielsweise in Kirchen, Gewerkschaften oder Vereinen
- und Formen wechselseitiger Hilfe - etwa im Bereich von
Nachbarschaften oder sonstigen Bekanntschaftsbeziehungen. Das
gemeinsame Moment dieser unterschiedlichen Formen der Förderung
des Gemeinwohls besteht in der ihnen zugrundeliegenden
Solidarität der Beteiligten.
(157) In den letzten 30 Jahren hat die allgemeine Erhöhung
des Wohlstands, des Bildungsniveaus und der sozialen Sicherheit den
Prozeß der Individualisierung beschleunigt: Das Leben des
einzelnen wurde optionsreicher, traditionelle Milieubindungen
lockerten sich, durch eigene Wahl eingegangene Verpflichtungen traten
z. T. an die Stelle vorgegebener Normen. Auch wenn dadurch das
Bewußtsein, solidarisch miteinander verbunden zu sein, weniger
selbstverständlich geworden ist, kann diese Entwicklung nicht
von vornherein mit Vereinzelung und Entsolidarisierung gleichgesetzt
werden. Vielmehr wandelt sich die Art und Weise, in der
Solidarität eingeübt und gelebt wird. An die Stelle
herkömmlicher Formen der Solidarität tritt zunehmend die
freiwillige solidarische Einbindung in Gruppen, die häufig durch
gemeinsames Engagement für eine gemeinsame Sache neu
entstehen.
(158) Diese gemeinsame Sache bezieht sich auch auf neue
Wertvorstellungen. Frauen und Männer suchen heute vielfach
Lebensziele gleichzeitig zu verwirklichen, die sich früher
auszuschließen schienen. Sie möchten Erwerbsarbeit und
Ehrenamt, Familie und Beruf, persönlichen Freiraum und
politisches Engagement miteinander verbinden. Ihnen geht es darum,
sich als kreative und unkonventionelle Persönlichkeiten selbst
zu entfalten und in einer Gemeinschaft Verantwortung zu
übernehmen. Sie wollen global denken und lokal handeln. Zudem
haben sich auch neue Wertorientierungen gesellschaftlich verbreitet -
z. B. für das Umwelt- und das Geschlechterverhältnis.
Gemeinsam ist vielen dieser neuen Wertorientierungen eine Ausweitung
des Solidaritätsverständnisses. Gefährdungen und
Risiken, die in Reichweite und Wirkungsgrad grenzenlos geworden sind,
betreffen prinzipiell alle und fordern daher auch ein
Bewußtsein globaler Verbundenheit. Diese Universalisierung der
Solidarität unterscheidet sich von älteren und
eingeschränkteren Formen der Solidarität. Christen
vermögen darin durchaus das Erbe des christlichen
Universalitätsanspruchs von Menschenwürde und
Menschenrechten zu erkennen. In der öffentlichen Diskussion
werden diese neuen Solidaritäten häufig übersehen und
nur die Entsolidarisierung und der Abbau des Gemeinsinns beklagt. Der
Rückgang überlieferter Formen der Solidarität ist
nicht zuletzt unter den Jüngeren mit höherer Bildung
häufig durch eine Zunahme von sozialem, politischem und
kulturellem Engagement ersetzt worden, das stärker als
früher unter dem Gesichtspunkt der Bereicherung an
Lebenserfahrung und inhaltlicher Befriedigung durch soziale
Kommunikation betrachtet wird.
(159) So haben im Westen Deutschlands in den letzten 25 Jahren
Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen,
Wohlfahrtsverbände und andere Nichtregierungsorganisationen die
Debatten in der politischen Öffentlichkeit belebt und damit Wege
zu einer Neuorientierung staatlichen Handelns geöffnet. In
Ostdeutschland war die friedliche Revolution nur möglich, weil
gesellschaftliche, vielfach kirchlich gebundene Gruppen gegen den
totalitären Staat aufbegehrten und an den Runden Tischen der
Wendezeit eine demokratische Kultur entwickelten, in der die
Beteiligten solidarisch und kooperativ nach neuen Wegen suchten. In
Ost und West klagen entwicklungspolitische Gruppen mit einer
erstaunlichen Beharrlichkeit ein, daß solidarische
Verantwortung universell und nicht teilbar ist.
Arbeitsloseninitiativen spüren gesellschaftlich sinnvolle
Arbeiten auf, die sonst ungetan blieben. Kirchengemeinden, kirchliche
Gruppen und Verbände führen Solidaritätsaktionen
durch. Ad hoc gebildete Bürgerkomitees organisieren
Lichterketten, in denen sich die Solidarität der deutschen
Bevölkerungsmehrheit mit bedrohten Ausländern
ausdrückt. Gruppen der Umwelt- und Frauenbewegung haben
über ihr politisches Engagement hinaus auch neue Lebensstile und
exemplarische Formen solidarischer Gemeinschaft erprobt. Zudem sind
Tausende neuer Selbsthilfegruppen entstanden. Kirchengemeinden,
kirchliche Einrichtungen, Organisationen und Initiativen haben sich
an diesen Suchprozessen beteiligt und neue Formen des ehren- und
hauptamtlichen Engagements entwickelt. In den beiden kirchlichen
Wohlfahrtsverbänden engagieren sich mehr als eine Million Frauen
und Männer ehrenamtlich.
(160) Wie die beschriebenen Potentiale einer erneuerten
Sozialkultur werden häufig auch die vielfältigen
Leistungen, die im Haushalt und in den Familien erbracht werden,
übersehen. Doch indem sich die Familienmitglieder wechselseitig
unterstützen, insbesondere die Pflege und Versorgung von
Kindern, älteren Menschen und Behinderten übernehmen,
dienen sie der Allgemeinheit und leisten einen unverzichtbaren
Beitrag zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und Einübung sozialen
Verhaltens.
4.6 Internationale Verantwortung
(161) Die vorangehenden Überlegungen haben sich auf die
inneren Verhältnisse entwickelter Industriegesellschaften und
der Bundesrepublik Deutschland im besonderen bezogen. Weniger denn je
kann jedoch heute ein einzelnes Land allein über seine Zukunft
bestimmen. Zukunftsfähigkeit kann die deutsche Gesellschaft
niemals im Alleingang erreichen. Ihre internationale Vernetzung
bedingt gleichzeitig Schranken und Chancen ihrer weiteren
Entwicklung.
(162) Durch die schrittweise Liberalisierung der Güter- und
Finanzmärkte nach dem Zweiten Weltkrieg ohne gleichzeitige
Herausbildung eines sozial verpflichteten Ordnungsrahmens ist es zur
Ausbildung weitgehend autonomer, weder politisch noch sozial
eingebundener Wirtschaftsbeziehungen gekommen. Das gilt insbesondere
für die transnationalen Unternehmen sowie für den Bereich
der Finanzmärkte. Wie sich in jüngster Zeit mehrfach
gezeigt hat, können von den internationalen Finanz- und
Kapitalmärkten nicht nur stabilisierende, sondern auch
destabilisierende Wirkungen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen.
Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den
internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf
die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung
weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets
sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital.
(163) Angesichts der ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher
Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden
Beschränkung des politischen Handlungsspielraums einzelner
Staaten wird eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für
wirtschaftliches und soziales Handeln dringlich. Erste Ansätze
dazu gibt es in der Tätigkeit der Vereinten Nationen, der
Weltbank, des Weltwährungsfonds und vor allem der
Welthandelsorganisation (WTO). Sie müssen ausgebaut werden, vor
allem durch Regeln für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb
und durch soziale Mindeststandards. Diese Regeln und Standards
durchzusetzen wird nur möglich sein, wenn die weltweit
tätigen staatsähnlichen Institutionen mit
ordnungspolitischer Kompetenz ausgestattet werden.
(164) Die Europäische Union gewinnt in diesem Licht
zusätzlich an Bedeutung. Die Aufwertung gemeinsamer geld- und
finanzpolitischer Instanzen und die wirtschafts- und sozialpolitische
Kooperation zwischen den Mitgliedsländern erweisen sich nicht
nur als wünschenswert, sondern als unumgänglich.
Tatsächlich ist die Europäisierung der Wirtschaftspolitik
viel rascher und entschiedener fortgeschritten als eine entsprechende
Entwicklung der Sozialpolitik. Hierfür sind mehrere Gründe
maßgeblich. In Europa treffen unterschiedliche Sozialmodelle
aufeinander. Eine Harmonisierung ist wegen der unterschiedlichen
Leistungsfähigkeit dieser Systeme und der erheblichen Kosten
für die einzelnen Mitgliedstaaten bislang nie ernsthaft in
Betracht gezogen worden. Außerdem haben die Mitgliedstaaten
sich nur in einigen wenigen im wesentlichen wettbewerbsrelevanten
Bereichen der beschäftigungsbezogenen Sozialpolitik darauf
verständigen können, der Europäischen Union
entsprechende Kompetenzen zu übertragen: so etwa beim
Arbeitsschutz sowie bei Einzelfragen des Arbeitsrechtes
einschließlich der Chancengleichheit von Frauen und
Männern am Arbeitsmarkt. Mit Rücksicht auf das Prinzip der
Subsidiarität wurde auf eine weitergehende Ausgestaltung der
Sozialpolitik auf europäischer Ebene verzichtet. In der
Europäischen Union werden die Aufgaben der Sozialpolitik
weitgehend auf nationaler Ebene wahrgenommen. Erforderlich ist jedoch
eine bessere gegenseitige Abstimmung nationaler Sozialpolitiken und
die Schaffung von Mindeststandards im Bereich des Sozial- und
Arbeitsrechts. Hierzu bedarf es auch einer stärkeren
Repräsentanz von Gewerkschaften und Sozial- und
Wohlfahrtsverbänden auf europäischer Ebene.
(165) Zum Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft
gehört auch ein Leitbild für die Wahrnehmung
internationaler Verantwortung. Deutschland hat infolge der
Vereinigung in jüngster Zeit zweifellos an internationalem
Einfluß gewonnen. Damit wächst die Verantwortung, in der
praktischen Politik zu den notwendigen Fortschritten bei der
Förderung der Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten armer
Länder, der Beseitigung der Massenarmut, der Bewältigung
der Migrationsproblematik, der Verbesserung des internationalen
Umweltschutzes, der Annäherung sozialpolitischer Standards und
der verantwortlichen Gestaltung der internationalen Finanzmärkte
beizutragen. Dies sind Anliegen, ohne die eine weltweite
Verwirklichung der Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben
der Völker nicht zu erwarten sind. Die Bundesrepublik
Deutschland ist aufgrund ihrer sozial- und umweltpolitischen
Erfahrungen, ihrer im Grundgesetz verankerten politischen
Überzeugungen und der eingegangenen europäischen Bindungen
in besonderer Weise verpflichtet, alles, was in ihrer Macht steht, zu
tun, um diesen Grundsätzen auch international zum Durchbruch zu
verhelfen.
5. Ziele und Wege
(166) Auf der Grundlage der theologischen und ethischen
Darlegungen sowie der Verständigung über einen neuen
Grundkonsens für eine zukunftsfähige Gesellschaft stellt
sich die Frage nach konkreten Veränderungen. Dabei geht es um
Veränderungen, die geeignet und notwendig sind, den
gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen gerecht zu
werden. Es ist nicht Sache der Kirchen, die Ziele und Wege
detailliert vorzuschreiben. Sie wollen vielmehr Richtungshinweise
geben. Sie wollen zum Handeln ermutigen und so deutlich machen,
daß es Lösungswege gibt.
Über die Ziele und Wege besteht in Deutschland wenig
Einigkeit. Es genügt deshalb nicht, lediglich berechtigte
Forderungen zu erheben. Vielmehr muß erkennbar werden,
daß die Verwirklichung dieser Forderungen im wohlverstandenen
Interesse auch derjenigen ist, welchen damit Opfer oder Verzichte
abverlangt werden. Ein politischer und gesellschaftlicher
Grundkonsens kann dabei einen tragfähigen Rahmen bilden,
innerhalb dessen sich das gemeinsame Ringen und die unvermeidlichen
Auseinandersetzungen um geeignete Lösungswege bewegen.
5.1 Arbeitslosigkeit abbauen
(167) Die Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal, dem
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hilflos ausgesetzt wären.
Es bestehen durchaus Voraussetzungen dafür, die
Massenarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Produktion und
Volkseinkommen sind in Deutschland so hoch wie nie zuvor. Deutschland
verfügt über eine moderne, gut ausgebaute Infrastruktur und
eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit leistungsfähigen
großen wie kleineren und mittleren Unternehmen. Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen sind hoch qualifiziert und motiviert. Die
Sozialpartnerschaft funktioniert, es herrscht sozialer Friede. Die
Preise sind stabil und die Zinsen niedrig. Es besteht deshalb kein
Anlaß, den Standort Deutschland" schlechtzureden.
Vielmehr kommt es darauf an, daß die Soziale Marktwirtschaft
unter Beweis stellt, daß sie ein Problem wie die langanhaltende
Massenarbeitslosigkeit lösen kann und damit einer
Wirtschaftsordnung ohne soziale Verpflichtung überlegen ist.
(168) So lange die Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage
für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration
und persönliche Entfaltung des einzelnen ist, ist es die Aufgabe
einer sozial verpflichteten und gerechten Wirtschaftsordnung, allen
Frauen und Männern, die dies brauchen und wünschen, den
Zugang und die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu eröffnen.
Ihnen sollen die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Chancen der
Teilnahme, der sozialen Integration, der Existenzsicherung und der
persönlichen Entfaltung eröffnet werden. Diese
Verpflichtung richtet sich gleichermaßen an die Politik und die
Tarifvertragsparteien, aber auch an die Industrie- und
Handelskammern, die Handwerkskammern, die Bundesbank sowie die
einzelnen Unternehmen und die Vielzahl der Einrichtungen, die als
Träger von Beschäftigungsinitiativen in Frage kommen, nicht
zuletzt an die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände. Ohne einen
breiten Grundkonsens in der Gesellschaft, ohne konzertierte
Bemühungen, ohne ein gemeinsames Zusammenwirken der
unterschiedlichen Verantwortungsträger kann es keine
Fortschritte geben. Um deutlich mehr Arbeitslose in
Beschäftigung zu bringen, gibt es keine einfachen und bequemen
Lösungen. Es müssen mehrere und unterschiedliche Wege
beschritten werden.
(169) Neue Arbeitsplätze müssen zunächst von einer
erfolgreichen, effektiven und wettbewerbsfähigen Wirtschaft am
regulären Arbeitsmarkt erwartet werden. Wenn Arbeitslosigkeit
abgebaut werden soll, dann müssen deshalb vor allem
wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden.
Insbesondere in Jahren anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit und
unübersehbar verschärften internationalen Wettbewerbs
erscheint es ökonomisch geboten und sozial vertretbar, für
Lohn- und Gehaltszuwächse einzutreten, die sich am
Produktivitätsfortschritt orientieren und die
Lohnstückkosten nicht erhöhen. Arbeitsmarktpolitik ist auf
die positiven Beschäftigungseffekte des dynamischen
wirtschaftlichen Strukturwandels angewiesen.
(170) Alle Träger der Wirtschaftspolitik sollten daher den
Strukturwandel durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen der
Wirtschaft fördern. Vordringliche Aufgabe ist dabei eine
umfassende Reform der Steuer- und Abgabensysteme mit dem Ziel, die
Steuer- und Abgabenbelastung zu vermindern und zugleich das Steuer-
und Abgabensystem insgesamt arbeitsplatzfördernder und sozial
gerechter zu gestalten. Notwendig ist weiter eine Verstärkung
der Anreize für technologische und wirtschaftliche Innovationen.
Nur so können technologisch hochwertige Produkte hergestellt
werden, und nur so kann die Wirtschaft auf veränderte
Marktbedingungen schnell reagieren. Erforderlich ist es,
zusätzliche Beschäftigungspotentiale und
Beschäftigungsfelder zu erschließen. Diese
Beschäftigungspotentiale sind im wesentlichen im Bereich neuer
Techniken und technologischer Innovation (Mikroelektronik,
Biotechnologie, neue Medien, Anwendung neuartiger Werkstoffe,
Umwelttechnologien, Verkehr) und im Bereich der industrienahen sowie
der privaten Dienstleistungen zu suchen. Notwendig ist
schließlich die Verbesserung des Ausbildungssystems. Bildung
und Ausbildung sind als lebenslange Aufgabe zu begreifen; sie
dürfen nicht auf einzelne Lebensabschnitte begrenzt bleiben.
(171) Gefördert werden müssen darüber hinaus
Selbständigkeit und unternehmerische Initiative.
Arbeitsplätze wurden und werden überwiegend in den
beschäftigungsintensiven kleineren und mittleren Betrieben des
Handwerks und Mittelstandes erhalten und geschaffen. In ihnen
arbeitet nicht nur die Mehrzahl der Beschäftigten; sie stellen
auch die weitaus meisten Ausbildungsplätze bereit. Mit jeder
Existenzgründung werden in Deutschland im Durchschnitt vier
Arbeitsplätze eingerichtet. Hier gilt es, eine neue Kultur der
Selbständigkeit anzuregen. Vor allem der Bereich des Handwerks
und des Mittelstandes bietet große Chancen für
Betriebsgründungen und eine selbständige Existenz. Junge
Menschen sollten bereits im allgemeinen und beruflichen Bildungswesen
ermutigt und befähigt werden, eine selbständige Existenz
aufzubauen, zumal auch der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin der
Zukunft in allen Wirtschaftsbereichen zu selbständigem und
eigenverantwortlichem Arbeiten fähig sein müssen.
(172) Der Grundgedanke vom Teilen der Erwerbsarbeit war den
Kirchen in der Diskussion um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
stets wichtig. Sie haben nie behauptet, daß sich
Arbeitslosigkeit allein oder vorrangig durch das Teilen von
Erwerbsarbeit überwinden lasse. Aber es gilt, auch diesen Weg zu
nutzen. Arbeitszeitverringerungen ohne vollen Lohnausgleich
können dazu beitragen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und
Frauen zu erhöhen. Auch mehr Teilzeitarbeitsplätze und der
Abbau von Überstunden sind geeignet, die vorhandene Arbeit
breiter zu verteilen. Arbeitszeitflexibilisierung, die (bei Wahrung
der Interessenlage von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der
familiären Erfordernisse der Arbeitnehmer) sowohl kürzere
als auch längere Arbeitszeiten ermöglicht, kann ebenfalls
zur Minderung der Arbeitslosigkeit beitragen. Für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht dem Verzicht auf Einkommen
bzw. Einkommenszuwächse eine Erhöhung der Freizeit und der
eigenen Zeitsouveränität gegenüber. Die Unternehmen
können höhere Kosten mit den Einsparungen verrechnen, die
sich aus einer Arbeitszeitflexibilisierung mit möglichen
längeren Betriebsnutzungszeiten ergeben. Verbesserungen der
betrieblichen Ergebnisse sind auch von einer partnerschaftlichen
Unternehmensverfassung und partizipativen Betriebsführung zu
erwarten, da sie eine höhere Motivation und Kreativität der
Beschäftigten sowie eine höhere Identifikation mit dem
Betrieb fördern.
(173) Aus ethischer Sicht steht bei der Frage des Teilens der
vorhandenen Arbeit eine schwierige Aufgabe des Interessenausgleichs
an: zwischen den Arbeitslosen, den Arbeitnehmern mit niedrigem
Einkommen, den Arbeitnehmern mit höherem Einkommen, den
Haushalten mit mehreren Besserverdienenden und den Unternehmen, aber
auch zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten sowie zwischen den
Geschlechtern. So bedeutet geteilte Arbeit eben auch geteilten Lohn.
Andererseits ist zu bedenken, daß nicht alle ihr Einkommen
teilen können, insbesondere nicht die, die ohnehin ein geringes
Einkommen beziehen. Die Auswirkungen vermehrter Teilzeitarbeit und
unregelmäßiger Erwerbsverhältnisse auf die soziale
Sicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter erfordern die
Gewährleistung von Untergrenzen der sozialen Absicherung.
Geringfügige Beschäftigungen, sofern sie reguläre
Arbeitnehmertätigkeiten umfassen, sollten dabei in die
Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Nichtversicherte
Arbeitsverhältnisse müssen die Ausnahme bleiben.
Teilzeitbeschäftigung sollte in stärkerem Maße auch
für Männer angeboten und von ihnen in Anspruch genommen
werden, um eine weitere Spaltung des Arbeitsmarktes zu Lasten der
Frauen zu vermeiden. Betriebe und öffentliche Verwaltungen sind
insbesondere zu ermutigen, auch im Bereich höherwertiger
Tätigkeiten Teilzeitarbeit zu ermöglichen.
(174) Erforderlich ist schließlich auch, die aktiven
Instrumente der gestaltenden Arbeitsmarktpolitik auszuschöpfen
und weiter zu entwickeln. Dazu zählen u. a. die
Qualifizierung von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten
und die Verbesserung der beruflichen Integration von
Langzeitarbeitslosen. Hier hat der gesamte Sektor öffentlich
geförderter Arbeit eine wichtige Funktion: angefangen von der
Förderung von Beschäftigungsgesellschaften bis hin zur
Unterstützung von sogenannten Sozialen Betrieben und Programmen
wie z. B. Arbeit statt Sozialhilfe" sowie
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Beim Einsatz dieser Instrumente
geht es vor allem darum, daß die verschiedenen staatlichen
Ebenen und die verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Träger
gemeinsam ihre Verantwortung beim Abbau der Massenarbeitslosigkeit
wahrnehmen. Auch angesichts knapper öffentlicher Kassen bleibt
es sinnvoller, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Arbeit
ist genügend vorhanden. Es müssen Mittel und Wege gefunden
werden, den gesellschaftlichen Reichtum so einzusetzen, daß sie
auch bezahlt werden kann. Im Bereich der Umwelt- und
Landschaftspflege, der haushalts- und personenbezogenen
Dienstleistungen und der Jugendhilfe, der Stadtsanierung und der
geringfügigen Reparaturen gibt es erheblichen Bedarf.
Öffentlich geförderte Arbeit ist - auch bei Vorrang des
regulären Arbeitsmarktes - unverzichtbar, denn das Menschenrecht
auf Arbeit kann in absehbarer Zeit nicht im Bereich des
regulären Arbeitsmarktes allein verwirklicht werden. In
Kooperation mit den Betrieben der privaten Wirtschaft sollten deshalb
durch eine bessere Verzahnung von Arbeits- und Sozialeinkommen Formen
öffentlich geförderter Arbeit entwickelt und Anreize
für ein erleichtertes Überwechseln aus der Arbeitslosigkeit
oder auch aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in reguläre
Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Dabei wird es
notwendig sein, daß eine vergleichsweise geringe, vom
Arbeitgeber zu zahlende Entlohnung durch ein zusätzliches
Sozialeinkommen ergänzt wird, damit die Beschäftigten nicht
in Armut geraten.
(175) Die Förderung von lokalen
Beschäftigungsinitiativen, die in enger Zusammenarbeit zwischen
Kommunen, freien Initiativen, Unternehmen und gesellschaftlichen
Institutionen wie Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Industrie- und
Handelskammern oder Handwerkskammern entstanden sind, sollte
ausgebaut werden. Eine dezentralisierte Arbeitsmarktpolitik kann
situationsangemessene Strategien zur Schaffung von
Beschäftigungsmöglichkeiten entwickeln, z. B.
Arbeitgebern anbieten, Angehörige von Problemgruppen des
Arbeitsmarktes probeweise kennenzulernen.
(176) Bei der Lösung der Beschäftigungskrise kommt es
schließlich darauf an, die Dominanz der Erwerbsarbeit" zu
überwinden und die verschiedenen Formen von Arbeit
gesellschaftlich anzuerkennen und zu unterstützen. Arbeit wird
nicht nur im Erwerbsbereich geleistet, sondern auch in der Familie
und in sog. ehrenamtlichen Tätigkeiten. Gerade im Raum der
Kirchen und im öffentlichen Leben spielen diese Arbeitsformen
eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle ist besonders auf die
Zwischenformen zwischen der arbeitsvertraglich geregelten
Erwerbsarbeit und Familienarbeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten
hinzuweisen. Sie erhalten auf dem Hintergrund längerer Freizeit,
erschwerter Zugänge zum Arbeitsmarkt, besserer Bildung und
Ausbildung und eines steigenden Bedarfs an gesellschaftlich
notwendiger Arbeit eine immer größere Bedeutung.
5.2 Den Sozialstaat reformieren
5.2.1 Die sozialen Sicherungssysteme
konsolidieren
(177) Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben sich
bisher als tragfähig erwiesen und sich gerade auch in den
jüngsten Jahren angesichts wachsender wirtschaftlicher
Anspannungen, anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Zunahme
persönlicher Notlagen und Hilfsbedürftigkeit weitgehend
bewährt. Ihre Aufgabe ist es, jeder Person Entfaltungschancen zu
eröffnen, sie gegenüber den elementaren Lebensrisiken
(Krankheit, Invalidität, Alter) abzusichern und ein
menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, nicht jedoch,
alle persönlichen Nachteile und Wechselfälle des Lebens
materiell auszugleichen. So wenig es deshalb angeht, den Sozialstaat
als Garanten für die Bewältigung aller persönlichen
Wechselfälle des Lebens mißzuverstehen, so wenig wäre
es mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar, die staatlichen
Aufgaben bei der sozialen Sicherung zu vernachlässigen.
Angesichts der gegenwärtigen Umbrüche steht dem deutschen
Sozialstaat seine entscheidende Bewährungsprobe aber noch
bevor.
(178) Kern des Sozialstaats ist in Deutschland das beitrags- und
leistungsbezogene, am Erwerbseinkommen anknüpfende
Sozialversicherungssystem. Der im demokratischen Konsens selbst
auferlegte Zwang zur solidarischen Vorsorge hat dazu geführt,
daß heute der überwiegende Teil der Bevölkerung im
Risikofall eine wirksame soziale Sicherung erhält. Wer
z. B. krank wird, soll deshalb nicht sozial absteigen
müssen. Ein solches Sozialversicherungssystem bleibt - trotz des
erheblichen privaten Vermögenszuwachses in Westdeutschland -
auch in Zukunft unverzichtbar. Denn Geld- und Grundvermögen ist
in zunehmendem Maß ungleich verteilt, so daß die breite
Bevölkerungsmehrheit auch in Zukunft nicht über ein
ausreichendes Vermögen zur Absicherung der elementaren
Lebensrisiken verfügen wird. Kennzeichen des Sozialsystems ist
weiterhin ein das Sozialversicherungssystem ergänzendes,
steuerfinanziertes Transfersystem, das nicht zuletzt der
Armutsbekämpfung dient.
(179) Der Sozialstaat ist und bleibt verpflichtet, jedem Menschen
in Deutschland ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Die Sozialhilfe dient dabei als letztes Auffangnetz im System der
sozialen Sicherung. Sie legt den Standard fest, der
Hilfsbedürftigen in Notlagen zukommt. Ihre Prinzipien
Bedarfsdeckung, Individualisierung, Nachrangigkeit" müssen
erhalten bleiben. Das Bundessozialhilfegesetz hat sich seit seiner
Einführung im Jahre 1961 bewährt. Belastet wurde dieses
Auffangnetz in den letzten Jahren dadurch, daß es für
immer größere Personengruppen zu einer Regelversorgung
geworden ist. Wenn die vorrangigen sozialen Sicherungssysteme (wie
z. B. Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung,
Krankenversicherung, Familienlastenausgleich u. a.)
tatsächlich, ihrem Auftrag entsprechend, in den allermeisten
Leistungsfällen wirkliche Not verhinderten, hielte sich auch der
Reformbedarf innerhalb der Sozialhilfe in Grenzen. Die Sozialhilfe
könnte wesentlich entlastet werden, wenn die vorrangigen
sozialen Sicherungssysteme armutsfest" gemacht werden. Dabei
ist insbesondere an eine Sockelung des Arbeitslosengeldes, der
Arbeitslosenhilfe und letztlich auch der gesetzlichen Rente auf die
Höhe des soziokulturellen Existenzminimums bei einem
steuerfinanzierten Ausgleich für die Sozialversicherungen zu
denken. Ein entscheidender Schritt zur Bekämpfung der verdeckten
Armut wäre getan.
(180) Die Regelsätze der Sozialhilfe sind so auszugestalten,
daß sie am Bedarf orientiert bleiben und jährlich
fortgeschrieben werden unter Berücksichtigung der
Lebenshaltungskosten, der Veränderung des Verbrauchsverhaltens
und der durchschnittlichen Nettolohnentwicklung aller Arbeitnehmer
(nicht nur der unteren Lohngruppen). Der Lohnabstand zwischen
Sozialhilfe und unteren Lohngruppen ist gegenwärtig gewahrt. Nur
wegen des ungenügenden Familienlastenausgleichs nähert sich
bei Familien mit mehreren Kindern die Sozialhilfe den unteren
Nettolöhnen. Hier ist das Lohnabstandsgebot jedoch kein
sachgerechter Maßstab, da die Kinderzahl in einem
leistungsorientierten Lohnsystem nicht berücksichtigt wird. Um
so dringlicher wird eine bedarfsgerechte Ausgestaltung des
Familienlastenausgleichs.
(181) Die Sozialhilferegelsätze sollten nicht
eingefroren" werden, weil damit nicht nur reale Kürzungen
des Existenzminimums verbunden sind, sondern (wegen der damit
verbundenen Rückwirkungen auf den Familienlastenausgleich) auch
die Familien benachteiligt werden. Weder für Deutsche noch
für Ausländer sollten Sachleistungen an die Stelle
finanzieller Zuwendungen treten. Arbeitseinkommen sollten nur zu
einem bestimmten Teil auf die Höhe bedarfsorientierter
Leistungen angerechnet werden, damit sich für ihre
Empfänger die Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit
lohnt. Das Problem liegt weniger darin, Sozialhilfeempfänger zur
Erwerbsarbeit zu motivieren, als ihnen geeignete
Arbeitsmöglichkeiten bereit zu stellen. Schließlich sollte
bei künftigen Reformen der Sozialhilfe berücksichtigt
werden, daß die besondere Art und Praxis der derzeitigen
Bedarfsprüfungen für viele Anspruchsberechtigte eine so
hohe Barriere darstellt, daß sie trotz dringenden Bedarfs auf
ihren Anspruch verzichten.
(182) Für eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut kommt
einer sozialen Wohnungspolitik besondere Bedeutung zu. Die
derzeitigen wohnungspolitischen Instrumente - steuerliche
Förderung, Objektförderung im sozialen Wohnungsbau,
Individualförderung mit Wohngeld - erreichen die sozial- und
einkommensschwachen Haushalte nur unzureichend oder gar nicht. Ein
großes Problem besteht darin, daß das Wohngeld seit
Jahren nicht angepaßt worden ist. Die direkte Förderung
des sozialen Wohnungsbaus kommt häufig auch Beziehern mittlerer
Einkommen und Wohlhabenden zugute. Hier müssen Fehlsteuerungen
vermieden werden. Die direkte Förderung des sozialen
Wohnungsbaus sollte mit dem Ziel einer größeren
Verfügungs- und Einkommensgerechtigkeit weiterentwickelt und mit
den übrigen Förderinstrumenten stärker verzahnt
werden. Es sollte geprüft werden, auf längere Sicht die
Objektförderung grundsätzlich durch eine bedarfsorientierte
Subjektförderung für sozial Schwache zu ersetzen. Das
Wohngeld ist regelmäßig und zeitnah an die Einkommens und
Mietpreisentwicklung anzupassen, um die Wohnkostenbelastung für
die einkommensschwächeren Haushalte tragbar zu halten. Zur
Beseitigung struktureller Armutsursachen gehören ferner wirksame
Hilfen, die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit vermeiden
und damit vor dem Verlust des Hauses oder der Wohnung
schützen.
(183) Die Wiederherstellung des Vertrauens in die
Rentenversicherung ist von großer Dringlichkeit. Die
demographische Entwicklung, d. h. die höhere
Lebenserwartung und die geringere Kinderzahl bewirken eine
Verschiebung im Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern. Mit
der Rentenreform 1992 konnte die Alterssicherung zunächst
stabilisiert werden, indem die Renten an die Nettolohnentwicklung
angepaßt wurden. Außerdem ist die Anhebung der
möglichen Renteneintrittsgrenze vorgesehen. Die neue
Rentenformel verknüpft Rentenhöhe,
Rentenversicherungsbeitrag und Bundeszuschuß zur Rente und
ermöglicht so eine größere Anpassungsfähigkeit
der Rentenversicherung und eine faire Verteilung der demographischen
Risiken auf Beitragszahler und Rentner.
(184) Weitere Reformschritte sind notwendig. Dem absehbaren
Anstieg des Beitragssatzes infolge der demographischen
Veränderungen muß entgegengewirkt werden. Die zu
erwartende Zuwanderung stellt dann eine positive
Einflußgröße dar, wenn die Zugewanderten im
erwerbsfähigen Alter sind und ihnen gesicherte
Arbeitmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Welches Niveau
der Renten auf Dauer gehalten werden kann, ist von der Entwicklung
der Beschäftigung, der Höhe der Einkommen und der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig. Notwendig ist
auch eine Reform der Beamtenversorgung und der Sicherung der
Angestellten im öffentlichen Dienst. Eine Reform in diesem
Bereich, die vor allem eine stärkere Eigenbeteiligung der
Beamten an ihrer Altersvorsorge vorsieht, ist auch aus Gründen
sozialer Gerechtigkeit überfällig.
(185) Schwieriger als erwartet gestalten sich die
Strukturreformbemühungen im Gesundheitswesen. Nach wie vor
besteht Reformbedarf. Auch in Zukunft müssen eine vollwertige
medizinische Versorgung für jedermann und ein freier, von der
Einkommensituation unabhängiger Zugang aller zur
Gesundheitsfürsorge unter Berücksichtigung der
gesundheitlichen Bedürfnisse gewährleistet sein. Die
Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und die Versorgung auf
einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau dürfen nicht
preisgegeben werden. Solidarität und Gerechtigkeit im System
müssen gewahrt bleiben. Ausgabenbegrenzungen im Gesundheitswesen
dürfen nicht dazu führen, Medizin und Pflege auf technische
Vollzüge zu reduzieren; menschliche Zuwendung und
Patientennähe sind unentbehrliche Kennzeichen einer humanen
Gesundheitsversorgung. Schon das geltende Recht der gesetzlichen
Krankenversicherung sieht eine Vielzahl von Eigenbeteiligungen und
Zuzahlungen vor. Damit wurden zu Lasten der Patienten
zusätzliche Beitragserhöhungen abgewendet. Maßnahmen
zur Begrenzung des Kostenanstiegs auf Seiten der Anbieter von
Gesundheitsleistungen müssen ausgewogen sein und dürfen die
Vielfalt der Leistungserbringer und Einrichtungsträger nicht
gefährden. Bei weiteren Maßnahmen zur Sicherung der
Gesundheitsversorgung ist darauf zu achten, daß sie nicht einem
Entsolidarisierungsprozeß Vorschub leisten und
Einkommensschwache in unvertretbarer Weise benachteiligen. Kommt es
zu allzu rigiden Begrenzungen, so werden die gesamtgesellschaftlichen
Folgekosten wesentlich höher sein als die kurzfristig erzielten
Spareffekte, und der gesetzlich verankerte Vorrang von
Prävention, Rehabilitation und ambulanter vor stationärer
Hilfe würde gefährdet.
(186) Das soziale Sicherungssystem ist auf eine Ergänzung
durch private Vorsorgeleistungen angewiesen. In Form der Bildung von
Wohneigentum ist dieses auch in großem Umfang geschehen. Eine
Ergänzung durch Maßnahmen der Vermögensbildung in
Arbeitnehmerhand könnte eine zusätzliche Sicherung
bedeuten, auch wenn man das quantitative Ausmaß derartiger
Schritte nicht überschätzen darf. Das für die
Ausgestaltung des deutschen Sozialstaats zentrale
Subsidiaritätsprinzip kann bei der Ergänzung durch private
Vorsorgeleistungen einen wichtigen Hinweis geben. Die Absicherung
durch die gesetzlichen Sozialversicherungen könnte bei
denjenigen Bürgerinnen und Bürgern reduziert werden, die
sich eine Eigenvorsorge ohne starke Einschränkungen des
Lebensstandards leisten können. So zeigt u. a. die Entwicklung
des privaten Vermögens in Deutschland, daß auch die
höheren Einkommensschichten bei den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern zu einer stärkeren eigenen Altersvorsorge in der
Lage sind. Auf keinen Fall ist es vertretbar, die soziale Sicherheit
durch den Sozialstaat bei denjenigen zu senken, die auf diese
Leistungen angewiesen sind. Angesichts der sehr ungleichen Verteilung
des gewachsenen Vermögens bleibt das gesetzliche
Sozialversicherungssystem auch in Zukunft für den Großteil
der Bevölkerung unverzichtbar.
(187) Finanzierungsprobleme und Leistungsdefizite des Systems
sozialer Sicherung tragen gleichermaßen zur Krise des
Sozialstaats bei. Das in der Öffentlichkeit weithin akzeptierte
Ziel, die Sozialquote nicht zu steigern und die Lohnnebenkosten
angesichts der Beschäftigungskrise zu senken, schließt es
aus, Leistungen zu erhöhen oder neue Leistungen
einzuführen, ohne zugleich andere Leistungen zu reduzieren.
Andererseits verweist die zunehmende Armut in Deutschland darauf,
daß es derzeit auch sozialstaatliche Leistungen gibt, die ihr
Ziel, sozialen Abstieg und Armut zu verhindern, nicht erreichen. Um
so wichtiger ist es deshalb, die Diskussion über die
Finanzierungsfragen des Sozialstaates nicht nur quantitativ als
finanzpolitische Spardebatte zu führen, sondern vor allem als
gesellschaftspolitische Gestaltungsdebatte. Die Grundlagen und die
Finanzierung dieses Sozialsystems werden dann erhalten und gesichert
werden können, wenn eine breite und nachhaltige
Einkommenserzielung in der Volkswirtschaft gewährleistet ist,
verbunden mit einer flexiblen Abstimmung von Beiträgen und
Leistungen.
(188) Die wichtigste Voraussetzung für die Finanzierbarkeit
des sozialen Sicherungssystems bleibt eine
Beschäftigungspolitik, welche den Anteil der Beitragszahler
erhöht und den Anteil derjenigen, die auf Transferleistungen
für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind, reduziert. Aus
verteilungs- und beschäftigungspolitischen Gründen kommt es
darauf an, daß die Lohnnebenkosten gesenkt und die notwendigen
Mittel für die versicherungfremden Leistungen von den
Steuerzahlern aufgebracht werden. Solange wesentliche
Bevölkerungsgruppen nicht zur Finanzierung der
Sozialversicherungssysteme beitragen, ist es fragwürdig,
gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie z. B. die Qualifizierung
oder Beschäftigung von Arbeitskräften oder die Folgekosten
der Vereinigung über Versicherungsbeiträge zu
finanzieren.
(189) Dagegen ist ein gewisser Lastenausgleich (z. B.
Möglichkeit der Mitversicherung von Kindern) innerhalb der
Versichertengemeinschaft durchaus mit den Prinzipien der
Sozialversicherung vereinbar. Es ist ja gerade der Sinn der
Sozialversicherung, auch solche Risiken abzusichern, die von der
Privatversicherung als schlechte Risiken" ausgegrenzt werden.
Voraussetzung für die Beitragsfinanzierung der Leistungen ist
jedoch, daß der Kreis der Leistungsempfänger mit
demjenigen der Beitragszahler und deren Familien weitgehend
übereinstimmt.
(190) Der notwendige Umbau des Sozialstaates läßt sich
nicht ohne Einsparungen und Einschnitte bewerkstelligen. Die
öffentlichen Haushalte dürfen nicht durch eine noch
höhere Verschuldung belastet werden. Eine nachhaltige
Finanzpolitik verbietet eine Staatsverschuldung zu Lasten
künftiger Generationen. Auch darf die Steuer- und Abgabenlast
nicht weiter erhöht werden. Die derzeitigen
Finanzierungsschwierigkeiten gehen überwiegend auf die hohe
Arbeitslosigkeit und ihre Folgen zurück und erschweren es gerade
in dieser Situation, die Lebensbedingungen der Schwachen in der
Gesellschaft zu sichern. Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern
die hohe Arbeitslosigkeit. Der Sozialstaat und die sozialstaatlichen
Leistungen sind nicht die Ursache für die anhaltend hohe
Arbeitslosigkeit. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen
werden, daß die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn die
sozialstaatlichen Leistungen eingeschränkt werden. Eine
dauerhafte Konsolidierung des Sozialstaats läßt sich - bei
allem notwendigen Reformbedarf - nicht ohne einen nachhaltigen und
energischen Abbau der Arbeitslosigkeit erreichen. Probleme des
wirtschaftlichen Erfolges und der Beschäftigung können
nicht durch das Transfersystem gelöst werden. Ebensowenig ist es
auf Dauer möglich, den Sozialstaat der anhaltenden
Arbeitslosigkeit anzupassen und damit im Trend immer weniger
Erwerbstätigen die Versorgung von immer mehr
Nichterwerbstätigen zu übertragen. Eine ursachengerechte
Reform der beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme muß
demgegenüber darauf ausgerichtet sein, den Zusammenhang zwischen
Beitragsleistung und Versicherungsanspruch wieder zu festigen, die
individuelle Eigenverantwortung zu stärken, die
Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten
und die Basis der Solidargemeinschaft zu verbreitern.
(191) Die Bevölkerung ist bereit, notwendige Einsparungen
mitzutragen, wenn sie sieht und davon ausgehen kann, daß die
Lasten und die Leistungen gerecht verteilt sind, dabei die Gesamtheit
der Solidargemeinschaft erfaßt wird und soziale Gerechtigkeit
und Solidarität nicht nur bei den Ausgaben und Leistungen,
sondern bereits auch bei der Aufbringung der Mittel gewahrt bleiben.
Wo dies nicht geschieht und wo ungleiche Belastungen vorgenommen
werden, ist offener und engagierter Widerspruch berechtigt.
Korrekturen sind beim Sozialstaat insbesondere notwendig im Blick auf
die gerechte Verteilung der Finanzierungslasten, die Gleichbehandlung
gleicher sozialer Tatbestände, die Beseitigung von
Mißbrauch und die Begrenzung unangemessener Vorteile.
Solidarität und soziale Gerechtigkeit gebieten es allerdings,
Steuervergünstigungen und Subventionen in gleicher Weise zu
überprüfen, insgesamt mehr Steuergerechtigkeit herzustellen
und Steuerhinterziehung, die mißbräuchliche
Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen und Subventionen sowie
die Korruption entschiedener zu bekämpfen. Der
Bundesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht 1996 zum wiederholten
Mal den ungleichen Umgang mit den Steuerbürgern kritisiert und
schlagkräftigere steuerliche Betriebsprüfungen"
angemahnt.
5.2.2 Solidarität in der Gesellschaft
stärken
5.2.2.1 Die Familien fördern
(192) In der Familie erfahren Menschen Erfüllung, geschieht
die personale Entfaltung von Kindern, werden soziale Verantwortung
und Solidarität eingeübt, Erfahrungen und Traditionen
weitergegeben. Belastungen für die Familie, Erschwerungen ihres
Lebensalltags und Beschränkungen der Entfaltungschancen treffen
in besonderer Weise die Kinder. Die Familie ist wegen ihrer Bedeutung
für die Gesellschaft besonders schutzbedürftig. Sie steht
mit der Ehe mit Recht unter dem besonderen Schutze der
staatlichen Ordnung" (Art. 6 Abs. 1 GG). Der Auftrag, Ehe und Familie
in besonderer Weise zu schützen und zu fördern, richtet
sich über Staat und Rechtsordnung hinaus an die gesamte
Gesellschaft. Um den vielfältigen berechtigten Belangen und
Interessen von Familien gerecht zu werden, ist ein Zusammenwirken
aller gesellschaftlichen Kräfte, der Politik, der Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, der Verbände, der Kirchen und Medien und nicht
zuletzt auch der Familien selbst und ihrer Interessenvertretungen
unerläßlich. Die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts bestätigt den Vorrang der
sozialstaatlichen Aufgabe, für einen gerechten Ausgleich der
Belastungen und wirtschaftlichen Nachteile zu sorgen, die Familien
durch die Erziehung von Kindern in Kauf nehmen. Das Prinzip der
sozialen Gerechtigkeit verlangt dabei, daß auch Personen, wie
z. B. Alleinerziehende, die außerhalb der Ehe
vergleichbare familiale Leistungen erbringen, nicht zuletzt im
Interesse der Kinder einen entsprechenden Anspruch haben.
(193) Familie und Wirtschaftssystem sind wechselseitig aufeinander
angewiesen, jedoch sind unter den gegenwärtigen Bedingungen die
Familien einseitig zu Anpassungen an die Erfordernisse der
Erwerbsarbeit gezwungen, die zu Lasten des Familienlebens und
gemeinsamer Familienzeit gehen. Eine halbwegs zufriedenstellende
Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Familie und
Erwerbsarbeit ist für junge Paare häufig ausschlaggebend
bei der Entscheidung für oder gegen Kinder und für eine
befriedigende Gestaltung des Lebens mit Kindern. Die Arbeitswelt und
die Betriebe müssen sich deshalb stärker auf die
Bedürfnisse der Familien einstellen; Familienfragen dürfen
auch in Zeiten einer angespannten Konjunktur und Arbeitsmarktlage
kein Randthema bleiben, sondern müssen Bestandteil jeder
Unternehmenspolitik sein. So sind z. B. mehr qualifizierte
Teilzeitarbeitsplätze notwendig, die für Männer und
Frauen gleichermaßen zugänglich sind und nicht nur Anreize
für weniger Qualifizierte bieten. Vorstellungen, die vor allem
Männern die Erwerbsanforderungen und Frauen die
Familienanforderungen zuweisen, werden weder dem gewandelten
Rollenverständnis von Mann und Frau in der Gesellschaft noch den
gleichberechtigten Beziehungsformen in den Partnerschaften gerecht.
Auch durch eine Erhöhung der Zeitsouveränität von
Eltern im Wege der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der
Arbeitsformen läßt sich die Erwerbsarbeit insgesamt
familienfreundlicher gestalten. Wird die Wahlfreiheit von
Familienarbeit und Erwerbsarbeit ernst genommen, sind
Kindertageseinrichtungen notwendigerweise fester Bestandteil eines
solchen Konzepts.
(194) Eine wirkliche Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und
Familienarbeit setzt weiter voraus, daß beide in ihrer
Bedeutung für die gesellschaftliche Wohlfahrt und für die
persönliche Lebensgestaltung als gleichrangig verstanden und
nicht einander nachgeordnet werden. Angesichts der gegenwärtigen
Prioritätensetzungen ist eine stärkere gesellschaftliche
und politische Anerkennung der Familientätigkeit erforderlich,
die sich auch in finanzieller Anerkennung niederschlagen muß.
Damit wird im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
für Eltern der Zwang reduziert, aus wirtschaftlichen
Gründen das Familienleben der Erwerbstätigkeit nachzuordnen
oder für die Berücksichtigung der Familieninteressen hohe
Kosten auf sich zu nehmen.
(195) Eltern, die ihrer Kinder wegen nicht erwerbstätig sind
oder eine Teilzeitstelle annehmen, dürfen im System der sozialen
Sicherheit, vor allem in der Renten- und Pflegeversicherung, nicht
länger diskriminiert werden. Dies ist um so wichtiger, als es
wünschenswert ist, daß ein Elternteil um der Kinder willen
in der Lage ist, auf eine Erwerbstätigkeit zumindest zeitweise
zu verzichten, um Familien- und Erziehungsarbeit leisten zu
können. Eine echte Wahlfreiheit in der Gestaltung von Familien-
und Erwerbsarbeit im Familienzyklus besteht erst dann, wenn daraus
keine nachteiligen Folgen vor allem im Blick auf die Altersversorgung
erwachsen und sich beide Eltern sowohl für Familienarbeit als
auch Erwerbsarbeit entscheiden können. Daher muß
angestrebt werden, die Zeiten der Kinderziehung in der gesetzlichen
Rentenversicherung noch stärker rentenbegründend und
rentensteigernd anzuerkennen und die Chancen der beruflichen
Wiedereingliederung von Eltern weiter zu verbessern.
(196) Familien in besonderen Lebenssituationen sind
zusätzlichen Belastungen ausgesetzt und deshalb auch in
stärkerem Maße auf Unterstützung angewiesen: So haben
Alleinerziehende nicht nur häufig mit finanziellen Problemen zu
kämpfen, sondern ihnen erwachsen bei fehlenden Hort- und
Kindergartenplätzen auch erhebliche Schwierigkeiten, Familie und
materielle Existenzsicherung in der Erwerbsarbeit zu vereinbaren.
Eine ungewollte Schwangerschaft kann Frauen, Paare oder Familien in
schwierige Konfliktsituationen führen, wenn dadurch der
zukünftige materielle Lebensunterhalt und alle bisherigen
Perspektiven und Hoffnungen für das eigene Leben oder soziale
Beziehungen, bis hin zur bestehenden Partnerschaft, in Frage gestellt
werden. In dieser Situation müssen die betroffenen Frauen und
Paare nicht nur die Möglichkeit haben, eine Beratung zu finden,
die ihnen die Entscheidung für die Annahme des Kindes
erleichtert, sondern auch alle weitergehenden Hilfen und
Unterstützungen für ein Leben mit dem Kind erhalten.
In einer besonders belasteten Situation müssen oft
Ausländerfamilien leben, da sie sich nicht nur in einer anderen
Kultur und bei fremden Menschen zurechtfinden müssen, sondern
vielfach zusätzlichen Vorbehalten bis hin zur Ablehnung
ausgesetzt sind. Menschen anderer Nationalität müssen in
Deutschland sicher sein, eine menschenwürdige Behandlung zu
erfahren. Unter besonderen Schwierigkeiten leben Kinder von
Ausländerfamilien, weil die sprachlichen Voraussetzungen
für den Schulerfolg ungünstiger sind und sie vielfach auch
schwere Spannungen zwischen den Wertorientierungen ihrer
Herkunftsfamilie und dem Leben unter den Gleichaltrigen erleben.
Ausländische Eltern und ihre Kinder verdienen nicht nur die
gleiche Anerkennung wie deutsche, sondern darüber hinaus
besondere sprachliche Förderung und Beratung.
(197) Um eine angemessene materielle Absicherung und
gesellschaftliche Anerkennung von Familien zu erreichen, ist es
insbesondere geboten, das Steuersystem so auszugestalten, daß
Ehepaare oder Alleinstehende mit Kindern nicht schlechter gestellt
werden als kinderlose Steuerzahler. Dazu müssen die
existenznotwendigen Aufwendungen für Kinder in realistischer
Höhe angesetzt und von steuerlichen Belastungen freigestellt
werden. Das Kindergeld sowie das Erziehungsgeld sind auch der
Höhe nach so auszugestalten, daß Kinder jedenfalls nicht
die Ursache für Armut sein können und keine Familie auch in
den niedrigeren Einkommensbereichen lediglich auf Grund der Tatsache,
daß sie Kinder hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist. Die
sozialstaatlich gebotene Sicherstellung des wirtschaftlichen
Existenzminimums von Familien erfordert die Anpassung der
finanziellen Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung in
angemessenen Zeitabständen. Diese staatlichen Leistungen und
ihre bedarfsgerechte Anpassung müssen auch bei engen
haushaltspolitischen Spielräumen verläßlich sein und
dürfen nicht jeweils neuen und anderen
Finanzierungsprioritäten untergeordnet werden.
(198) Ein wichtiger Aspekt für die Verbesserung der
wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien ist die
Bereitstellung familiengerechten Wohnraums und eines kinder- und
familienfreundlichen Wohnumfeldes. Hier liegt auch eine besondere
Verantwortung bei den Kommunen, welche gezielt günstige
Baugrundstücke gegebenenfalls auch in Erbpacht für junge
Familien vorhalten sollten. Die wohnungspolitischen
Fördermaßnahmen nicht zuletzt bei der Wohneigentumsbildung
sollten vorrangig Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich
und mit mehreren Kindern zugute kommen.
(199) Über die finanzielle Förderung hinaus sind die
Familien vielfach auf institutionelle Hilfe wie Tageseinrichtungen
und Tagespflege für Kinder oder Angebote der Familienbildung
angewiesen. Andere Hilfen sind besonders auf Familien unter
belasteten Lebensbedingungen und schwierigen Situationen
ausgerichtet, wie z. B. die verschiedenen Beratungsdienste, die
Familienhilfe und die Familienerholung. In diesen Hilfen kommt zum
Ausdruck, daß es sich bei der Unterstützung der Familien
mit Kindern um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt, die dort
ansetzen muß, wo die Familie an die Grenzen ihrer
Leistungsfähigkeit stößt oder aufgrund ihrer
besonderen Situation auf Hilfe und Unterstützung angewiesen
ist.
5.2.2.2 Chancengerechtigkeit zwischen
Frauen und Männern verwirklichen
(200) Ein zentrales Anliegen vieler Eingaben des
Konsultationsprozesses war es, die grundlegenden Veränderungen
der Stellung der Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft stärker
zu berücksichtigen. Zugleich wurde eine Vielzahl konkreter
Belastungen und Benachteiligungen angeführt, die bisher immer
noch in Politik, Gesellschaft, Beruf und Familie der
Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Chancengerechtigkeit
zwischen ihnen entgegenstehen.
(201) Die in Familie, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
dominierende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist
ursächlich für die weithin noch fehlende
Chancengerechtigkeit für Frauen, auch wo diese über ein den
Männern vergleichbares Bildungs- und Qualifikationsniveau
verfügen. Frauen wollen ihre Fähigkeiten und Anliegen in
Familie und Beruf, im privaten und im öffentlichen Leben
verwirklichen. Sie wollen dabei bezahlte und die überwiegend von
ihnen geleistete unbezahlte Arbeit mit Männern teilen und in
allen Bereichen partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Dies
setzt nicht nur einen Wandel in den Beziehungen und Verhaltensweisen
von Männern und Frauen voraus. Erforderlich sind ebenso
strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die
den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenssituationen von
Männern und Frauen, von Vätern und Müttern gerecht
werden.
(202) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die bisher
einseitig zu Lasten der Frauen ging, muß für Frauen und
Männer gleichermaßen möglich sein. Das schließt
die vermehrte Beteiligung der Männer an der Haus- und
Familienarbeit ein, verlangt aber auch besondere Bemühungen, die
Familienarbeit in verstärktem Maße als gleichrangig neben
der Erwerbsarbeit anzuerkennen. Die Chancen bei der Aufnahme von
Erwerbsarbeit, der beruflichen Aus- und Fortbildung und vor allem bei
der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit im Anschluß
an die Kindererziehungsphase sind zu verbessern. Aufstiegschancen
dürfen dabei nicht beeinträchtigt werden. Die
eigenständige soziale Sicherung der Frauen ist schrittweise zu
verwirklichen. Nur so ist eine tatsächliche Wahlfreiheit der
Lebensgestaltung für Frauen und Männer möglich.
(203) Berufe, in denen überwiegend Frauen tätig sind,
sollten in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht aufgewertet
werden. Gezielte Aus- und Weiterbildung sollte verstärkt werden,
um Frauen ein breiteres Berufsspektrum zu öffnen und somit die
geschlechtsspezifische Spaltung insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu
überwinden. Dadurch kann auch einer rascheren Entlassung von
Frauen in die Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden, die sich durch
die fortschreitende Modernisierung im Produktions- und
Dienstleistungsbereich ergibt. Insbesondere sind Maßnahmen zu
unterstützen, die den Anteil der Frauen in
Entscheidungspositionen im Bildungswesen und in den Medien, in
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie in der Kirche
erhöhen. In allen diesen Bereichen sollten personelle und
organisatorische Möglichkeiten geschaffen werden, durch die
Frauen stärker an den Gestaltungsaufgaben und Entscheidungen in
Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beteiligt werden.
5.2.2.3 Zukunftschancen der Jugendlichen
sichern
(204) Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bemißt
sich nicht zuletzt daran, welche Perspektiven und Zukunftschancen sie
ihrer Jugend gibt. Es geht um die Fragen: Wachsen junge Menschen in
einem menschlichen Klima und unter günstigen Bedingungen auf?
Erfahren sie die nötige Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und
Förderung? Haben sie die Möglichkeit, in die Gesellschaft
hineinzuwachsen, gehört und beteiligt zu werden und einen
beruflichen Weg anzustreben, der ihren Neigungen und
Möglichkeiten entgegenkommt? Haben sie Chancen am Arbeitsmarkt?
Ausgaben für Bildung und Ausbildung sind Investitionen in die
Zukunft der Gesellschaft. Neben der Wissensvermittlung sind die
Persönlichkeitsentwicklung und die Stärkung der
Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit gleichgewichtige
Ziele, auf deren Einhaltung und Verwirklichung Jugendliche einen
Anspruch haben.
(205) Die hohe Arbeitslosigkeit und die bestehenden
Schwierigkeiten beim Zugang zu Ausbildungsplätzen und zum
Arbeitsmarkt stellen für Jugendliche eine erhebliche Belastung
dar, die sie empfindlicher als Erwachsene in vergleichbarer Situation
trifft. Um so notwendiger ist es, für Jugendliche ein
angemessenes und differenziertes Angebot an Ausbildungs- und
Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen. Junge Menschen erwarten zu
Recht, daß sie über Ausbildung und Beruf eine
ökonomische und soziale Perspektive entwickeln können, die
ihnen ein sinnvolles und eigenverantwortliches Leben
ermöglicht.
(206) Das duale System in der Berufsausbildung hat sich in
Deutschland bewährt. Es muß erhalten werden. Grundlage
hierfür muß sein, daß im Rahmen der Sozialen
Marktwirtschaft die Arbeitgeber - Wirtschaft, öffentliche Hand,
Kirchen und Verbände - ihrer Verpflichtung zur Ausbildung im
notwendigen Umfang nachkommen. Eine besondere Verantwortung tragen
hier die Tarifvertragsparteien. Wenn Appelle und
Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, ist es Aufgabe der Politik,
im Interesse der Jugendlichen steuernd einzugreifen, um
möglichst allen ausbildungssuchenden Jugendlichen eine
entsprechende Ausbildung zu ermöglichen. Das System der
beruflichen Bildung ist zu einem ganzheitlichen System beruflicher
Aus- und Weiterbildung weiterzuentwickeln mit dem Ziel, dauerhafte
Beschäftigungen zu erreichen und auch während der
Ausübung einer Beschäftigung anerkannte
Berufsabschlüsse nachholen zu können. Es müssen neue
Berufsbilder in zukunftsorientierten Arbeitsfeldern entwickelt und
fortgeschrieben werden. Eine qualifizierte Berufsberatung muß
den Jugendlichen möglichst früh Hilfestellung zu einer
beruflichen Orientierung geben.
(207) Die Förderung von Mädchen und jungen Frauen ist
integraler Bestandteil des dualen Systems mit dem Ziel möglichst
hoher Qualifizierung. Die Gleichwertigkeit von allgemeiner und
beruflicher Bildung ist ein weiterer wichtiger Baustein zur
Entwicklung eines ganzheitlichen Systems der beruflichen Bildung.
Dazu gehören eine bessere Ausstattung der Berufsschulen, die
Erleichterung des Erwerbs von Fachhochschul- und
Hochschulzugangsberechtigungen im Rahmen der beruflichen Ausbildung
und die bessere Anbindung und Verzahnung der Abschlüsse des
beruflichen Bildungssystems mit den Systemen der Allgemeinbildung.
Für benachteiligte Jugendliche, vor allem lernschwache, sind die
bewährten Instrumente aus dem Arbeitsförderungsgesetz zu
erhalten und auszubauen.
(208) Wenn in den heute diskutierten Fragen der Wirtschafts- und
Sozialordnung in Deutschland ein neuer Konsens erreicht werden soll,
der auch zukünftig tragfähig ist, dann müssen junge
Menschen stärker in die Mitverantwortung einbezogen werden.
Nicht zuletzt benötigen Jugendliche in ausreichendem Maße
angemessen ausgestattete Orte mit hohem Selbstbestimmungsgrad in der
Jugend- und Jugendverbandsarbeit, durch die sie Zugehörigkeit
erfahren, die eigene Persönlichkeit entwickeln und
eigenverantwortliches, solidarisches Handeln lernen können.
5.2.2.4 Die Einheit Deutschlands mit
Leben erfüllen
(209) Die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands ist eine
bleibende Aufgabe. Sie kann nicht als ein in absehbarer Zeit
abzuschließender Prozeß verstanden werden. Es geht dabei
nicht um das Erreichen eines Gleichstandes auf allen Gebieten,
sondern um die Gestaltung einer gemeinsamen sozialen Gesellschaft in
ganz Deutschland, die jedem Menschen ein Leben in Würde
ermöglicht, Benachteiligungen von Menschen und Regionen abbaut
und sich in besonderer Weise den Schwachen zuwendet. Mit der Aufgabe,
die Trennungen zwischen Ost und West in Deutschland abzubauen und
gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, geht es auch um die
Überwindung von krassen Ungleichheiten. Die Aufgabe, solche
Ungleichheiten zu beseitigen, betrifft nicht nur das
Ost-West-Verhältnis, sondern gilt für Deutschland
insgesamt.
(210) Weder die Menschen noch die Wirtschaft in den neuen
Ländern waren auf die abrupt eingeführten
marktwirtschaftlichen Bedingungen vorbereitet. Den vielfältigen
positiven Aspekten stehen neue Ungerechtigkeiten und wirtschaftliche
Probleme gegenüber. Der tiefgreifende Umbruch in der gesamten
Lebenskultur der Menschen ist in Ostdeutschland noch längst
nicht verarbeitet und mancherorts in Westdeutschland noch nicht
ausreichend zur Kenntnis genommen worden. Es handelt sich um eine
gemeinsame geschichtliche Last in der Folge der
nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und des Zweiten
Weltkriegs.
(211) Die Entwicklung im vereinigten Deutschland ist zum Teil
widersprüchlich verlaufen: Einerseits ist es zu beeindruckenden
Aufbauleistungen und Solidaritätserweisen gekommen, die bis zum
heutigen Tag anhalten. So belaufen sich die bis Ende 1996 in die
neuen Länder geflossenen Nettotransferleistungen auf rund 750
Mrd. DM. Dies hat, gerade im Vergleich mit den anderen östlichen
Ländern, die einen ähnlich drastischen wirtschaftlichen
Zusammenbruch erlebt haben, für einen enormen Aufschwung
gesorgt. Die meisten Menschen in den östlichen
Bundesländern bestätigen das, indem sie eine deutliche
Verbesserung ihrer persönlichen, materiellen Lage wahrnehmen.
Andererseits haben Dankbarkeitserwartungen, unerbetene
Ratschläge, westliches Unverständnis und die vielen
ungelösten Probleme zu Unbehagen und zum Teil auch Spannungen
geführt. Obwohl die Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse noch längere Zeit beanspruchen wird,
muß es schon jetzt gelingen, Vorbehalte und
Unverständnisse zwischen Ost und West abzubauen und das
Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken.
(212) Die vielfältigen Belastungen, die durch den
Zusammenbruch des Wirtschaftssystems der DDR und die
gesamtgesellschaftlichen Umbrucherscheinungen entstanden sind, werden
vorerst noch anhalten und Transferleistungen und andere solidarische
Formen von Unterstützung auf allen Ebenen auch weiter dringend
erforderlich machen. Notwendig sind vor allem verstärkte
Investitionen zum Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen. Wichtig ist
aber auch, daß es im Bereich der
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht zu weiteren Kürzungen
kommt. Durch solche Kürzungen würden oft genug gerade denen
Chancen versagt, die arbeitsfähig, arbeitswillig und
qualifiziert sind und unverschuldet arbeitslos wurden. Das
Gefühl der Chancenlosigkeit birgt die Gefahr von Resignation und
Verzweiflung in sich und vertieft die Spaltung in der
Gesellschaft.
(213) Die deutsche Vereinigung eröffnet für viele
Menschen neue Chancen und Perspektiven. Die weit überwiegende
Mehrheit der Menschen in Ost und West ist dankbar für die Wende.
Es gibt kaum jemanden, der das Rad der Geschichte zurückdrehen
möchte. Die Vereinigung Deutschlands ist nicht zuletzt das
Ergebnis des bewußten Kampfes der Menschen im Osten für
eine parlamentarische Demokratie und des Aufbegehrens gegen
Bevormundung und Mißwirtschaft. Nun sind alle gefordert, die
innere Einheit mit Engagement und Phantasie zu gestalten:
Regierungen, Gewerkschaften, Verbände, Institutionen und nicht
zuletzt die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Es ist eine
Aufgabe ohne Vorbilder und vergleichbare geschichtliche Erfahrungen.
Dabei ist es die Aufgabe auch der Kirchen, Hilfe für den Dialog
und das gegenseitige Verständnis anzubieten und für
Solidarität einzutreten. Eine eigenständige und von einer
besonderen Geschichte und kulturellen Tradition geprägte
Entwicklung muß differenziert wahrgenommen werden.
(214) Die innere Einheit kann nur gelingen, wenn sich die Menschen
in Ost und West als solidarische Gemeinschaft verstehen. Sie
müssen im Interesse des Ganzen bereit sein, entsprechend ihren
Möglichkeiten auch über einen längeren Zeitraum
Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Die unvermeidlichen Opfer und
Belastungen müssen gerecht verteilt werden, ohne dabei die
Leistungsfähigkeit von Staat und Wirtschaft zu
gefährden.
5.2.2.5 Eine gerechtere
Vermögensverteilung schaffen
(215) Privateigentum und damit Privatvermögen sind
konstitutive Elemente der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der
Bundesrepublik Deutschland und dienen der eigenen Daseinsvorsorge
ebenso wie der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung. Die
Vermögenserträge ergänzen die Einkommen aus Arbeit.
Vermögen und Vermögenserträge ermöglichen
zugleich eine ergänzende Altersvorsorge und Vorsorge für
Notfälle.
(216) Die Kirchen setzen sich deshalb seit langem für eine
gerechtere und gleichmäßigere Verteilung des Eigentums und
nicht zuletzt für eine verstärkte Beteiligung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen ein. Das
Ziel einer sozial ausgewogeneren und gerechteren
Vermögensverteilung in Deutschland ist bei weitem nicht
erreicht. Auch wenn es in bestimmten Bereichen der
Vermögensbildung (z. B. Bildung von Geldvermögen und
Wohneigentum) unbestreitbar Fortschritte gegeben hat, nimmt die
Konzentration der Vermögen auf die einkommens- und
vermögensstarken Schichten zu, der Abstand zwischen den reichen
Haushalten auf der einen Seite und den Haushalten, die über ein
bescheidenes oder gar kein Vermögen verfügen, auf der
anderen Seite wird größer.
(217) Noch einmal verschärft gegenüber der Situation in
den alten Bundesländern stellt sich die Vermögensverteilung
in den neuen Bundesländern dar. Nicht nur, daß der Anteil
der privaten Haushalte in den neuen Bundesländern am
Produktivvermögen verständlicherweise aufgrund der
bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung extrem gering ist.
Auch ihre Geldvermögens- und Wohneigentumsbildung ist aus den
gleichen Gründen niedriger als in den alten Bundesländern.
Es hat sowohl beim Immobilien- wie vor allem beim
Produktivvermögen eine Verschiebung in westdeutsche Hände
auf breiter Basis gegeben. Etwa 80 % der Privatisierungen durch
die Treuhand-Anstalt gingen an westdeutsche Unternehmen. Es ist
versäumt worden, den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen
Bundesländern und die Investitionsförderung sowie die
Angleichung der Löhne und Gehälter mit dem Ziel einer
breiten Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen zu
verbinden und auch so zu einer gerechteren Vermögensverteilung
beizutragen.
(218) Um insbesondere Fortschritte im Sinne einer breiteren
Streuung des Produktivkapitals zu erreichen, ist eine sachgerechte
Fortentwicklung und Ausgestaltung der vermögenspolitischen
Rahmenbedingungen dringlich. Dies gilt heute um so mehr, als sich das
Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit auch im Blick auf die
Einkommen mehr und mehr zu Lasten der Arbeit verschiebt. Die Kirchen
und kirchlichen Verbände und Organisationen haben eine Vielzahl
von Initiativen und Modellen entwickelt, wie die Beteiligung der
Arbeitnehmer am Produktivvermögen verstärkt und damit
zugleich dazu beigetragen werden kann, Investitionen zu erleichtern,
Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen und so auch die
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu festigen. Sie
haben gleichzeitig Grundsätze und Kompromißlinien
aufgezeigt, wie sich bestehende Hindernisse insbesondere bei
tarifvertraglicher Vermögensbildung aus dem Weg räumen
lassen. Es ist primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien,
sich zu solchen Vereinbarungen bereitzufinden und damit einen
Durchbruch bei der Kapitalbildung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu erreichen. Aber auch der Staat muß dabei seine
Verantwortung wahrnehmen.
(219) Verläßliche Daten über die
Vermögensverteilung und -entwicklung in Deutschland liegen in
ausreichendem Umfang nicht vor. Während es eine
regelmäßige Berichterstattung über die
gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowohl durch den
Sachverständigenrat als auch durch die
Konjunkturforschungsinstitute gibt, fehlt eine solche
regelmäßige Berichterstattung für den hochkomplexen
Bereich der Einkommens- und Vermögensverteilung. Informationen
darüber sind unerläßlich, um notwendige
Entscheidungen im Beziehungsgeflecht des steuerlichen und sozialen
Leistungs- und Verteilungssystems sachgerecht vorbereiten und
Effizienz und Gerechtigkeit von getroffenen Maßnahmen
überprüfen zu können. Es bedarf deshalb nicht nur
eines regelmäßigen Armutsberichts, sondern darüber
hinaus auch eines Reichtumsberichts.
(220) Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muß ein Thema
der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig
häufig die Umverteilung des Mangels, weil der
Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Es geht
deshalb nicht allein um eine breitere Vermögensbildung und
-verteilung. Aus sozialethischer Sicht gibt es auch solidarische
Pflichten von Vermögenden und die Sozialpflichtigkeit des
Eigentums. Die Leistungsfähigkeit zum Teilen und zum Tragen von
Lasten in der Gesellschaft bestimmt sich nicht nur nach dem laufenden
Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Werden die
Vermögen nicht in angemessener Weise zur Finanzierung
gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, wird die Sozialpflichtigkeit
in einer wichtigen Beziehung eingeschränkt oder gar aufgehoben.
In einer Lage, in der besondere Aufgaben - wie etwa die Finanzierung
der deutschen Einheit - in großem Umfang durch die Aufnahme von
Staatsschulden finanziert werden müssen, sollten stärker
die Vermögen herangezogen werden. In welcher Form das gerecht
und verfassungsgemäß geschehen kann, ist zu
prüfen.
5.2.2.6 Eine neue Sozialkultur
fördern
(221) Tempo und Ausmaß des wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Wandels verändern Selbstverständnis, Formen und
Wirkungsweise der traditionellen Sozialkultur. Diese
Veränderungen beeinträchtigen die sozialen und
zivilgesellschaftlichen Netzwerke, ohne die Wirtschaft und
Gesellschaft nicht existieren können. Notwendig ist eine neue
Besinnung auf die Sozialkultur. In ihr liegt ein großes
Potential für soziale Phantasie und Engagement. Den vorhandenen
ethischen und sozialen Ressourcen in der Gesellschaft muß mehr
Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden. Dies betrifft vor
allem soziale Netzwerke und Dienste, lokale
Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches Engagement und
Selbsthilfegruppen.
(222) Der Staat muß auf allen Ebenen durch die Schaffung
geeigneter Rahmenbedingungen seinen Beitrag dafür leisten,
daß diese Initiativen sich entfalten können. Vorrangig ist
die öffentliche Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit.
Freiwillige und unentgeltliche Dienstleistungen könnten mit
Gegenleistungen wie z. B. Aufwandsentschädigungen,
Weiterbildungsangeboten und Berücksichtigung bei der Bewerbung
um einen Erwerbsarbeitsplatz sowie Gutscheinen (etwa für die
Inanspruchnahme von Hilfeleistungen bei eigenem Bedarf) honoriert
werden. Freistellungen im Beruf sollten erleichtert werden. Wer sich
in der Jugendarbeit betätigt hat, könnte bei der Vergabe
von Studien- oder Ausbildungsplätzen bevorzugt werden. Eine
Haftung für Schäden, die im ehrenamtlichen Dienst
entstehen, wäre sinnvoll. Es könnte auch an ein
Bildungskonto gedacht werden, das der Staat für junge Menschen
einrichtet, dem das Zeitbudget entsprechen würde, das junge
Menschen - irgendwann in ihrem Leben - dem Gemeinwesen zur
Verfügung stellen.
(223) Ein unersetzliches Gut der Sozialkultur ist der Sonntag. Der
Schutz des Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm
ökonomische Interessen vorgeordnet werden. Der Sonntag muß
geschützt bleiben. Als Tag des Herrn hat er einen zentralen
religiösen Inhalt. Er ist auch gemeinsame Zeit der Familie, der
Freunde und Nachbarn und damit ein wichtiges kulturelles Gut, das
nicht zur Disposition gestellt werden darf. 10
5.3 Den ökologischen Strukturwandel
voranbringen
(224) Nachhaltige Entwicklung ist vom Selbstverständnis her
ein Wirtschaftskonzept mit verteilungspolitischem Anspruch. Als
Verteilungsregel sollte gelten: Recht und Billigkeit der
Ressourcennutzung müssen sowohl unter der jetzt lebenden
Weltbevölkerung als auch im Ablauf der Generationen
gewährleistet sein. Die natürlichen Lebensgrundlagen sollen
im Interesse der nachfolgenden Generationen erhalten werden. Von der
belasteten bzw. zerstörten Umwelt sollte so viel wie
möglich wiederhergestellt werden.
(225) Die Grundbedingung für eine zukunftsfähige
Entwicklung ist die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen,
auf denen die menschliche Existenz beruht. Um die Tragekapazität
der ökologischen Systeme nicht zu überschreiten,
können der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen werden und
nur so viele Rest- und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie
ohne Schaden aufzunehmen vermag. Im Blick auf Rohstoffe, die nicht
oder nur langsam nachwachsen, müßte ein entsprechender
Ersatz geschaffen werden. Dieses Konzept läßt es offen, ob
die Erhaltung der Umweltfunktionen eher durch Einsparungen oder durch
eine verbesserte Ausnutzung erreicht wird.
(226) Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft gilt es,
den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen von der
wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln, als
dies bisher der Fall war, und die Produktionsprozesse von Anfang an
in die natürlichen Kreisläufe einzubinden. Die
ökonomischen Prozesse sind letztlich Teil der ökologischen
Systeme, aus denen die Rohstoffe entnommen und in denen die
Abfallstoffe verarbeitet werden müssen. Eine
Langzeitökonomie" muß sich also um die
Erhaltungsbedingungen dieser ökologischen Voraussetzungen
wirtschaftlichen Handelns und deren spezifische
Gesetzmäßigkeiten kümmern. Grundsätzlich
angezeigt sind damit naturangepaßte Stoffströme und
Energiegewinnung, so weit wie möglich abgeschlossene,
störungsfreie technische Eigenkreisläufe und deren
Einfügung in den Stoffwechsel der Natur. Darüber hinaus
bedeutet dies, daß Abfälle und Reststoffe nach dem Ende
ihrer Gebrauchszeit so weit wie möglich wiederverwendet werden
müssen. Zudem muß bei der Entwicklung und Produktion von
Gütern vermehrt auf Langlebigkeit und Reparaturfreundlichkeit
geachtet werden. Damit würde der Anteil der Reparatur und der
Kundenbetreuung an der Wertschöpfung - in der Regel dezentral
organisierte und arbeitsintensive Sektoren der Wirtschaft - steigen,
die Bedeutung der Produktion sinken.
(227) Weiterhin ist es erforderlich, die wirtschaftliche
Strukturanpassung des Steuersystems für ökologische Ziele
zu nutzen, wie dies in der Steuerdebatte in den Gremien der
Europäischen Union gegenwärtig gefordert wird. Ein seit
langem diskutierter pragmatischer Vorschlag, der in seinen
ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen
unterschiedlich eingeschätzt wird, besteht darin, diesen
Anpassungsprozeß durch eine umweltgerechte Finanzreform
(Abschaffung umweltschädlicher Subventionen, Energie- und
CO2-Steuern zugunsten einer Entlastung der Lohnnebenkosten) zu
unterstützen. Von einer solchen Finanzreform könnte nach
Meinung ihrer Befürworter gleichzeitig ein
beschäftigungsfördernder Anreiz ausgehen, da die
gegenwärtig primär auf den Faktor Arbeit konzentrierte
Belastung breiter gestreut und gleichzeitig das Energiesparen belohnt
würde. In jedem Falle sollte der Staat im notwendigen Umfang
durch Abgaben, Auflagen und Haftungsregelungen, aber auch finanzielle
Anreize Rahmenbedingungen setzen, die ein ökologisch
verträgliches Wirtschaften und damit einen vorsorgenden
Umweltschutz unterstützen und begünstigen.
(228) Für die Erarbeitung einer umfassenden Strategie
nachhaltiger Entwicklung sind besonders wichtige und auch sensitive
Bereiche der Energiesektor, die chemische Industrie, die
Landwirtschaft und der Verkehr. Energiepolitik muß
durchgängig vom Prinzip der Risikobegrenzung geleitet werden,
und zwar sowohl im Blick auf die Umwelt als auch im Blick auf die
Gesundheit und die Sicherheit von Menschen. Ein zweites leitendes
Prinzip ist das der Energieeffizienz, die durch eine breite Palette
von Einzelmaßnahmen - von der für die Wirtschaft
langfristig kalkulierbaren Verteuerung der Energie bis zur
Förderung der Forschung und Entwicklung regenerativer
Energieträger - gestärkt werden muß. Ähnliches
gilt für die chemische Industrie, bei der eine Veränderung
der Politik sich nicht nur auf die Emissionen bei der Produktion,
sondern auch auf die Produkte selbst beziehen muß.
(229) Zu einer dauerhaften Verbesserung und Sicherung der
natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung einer umwelt- und
naturgerechten Landschaft in ihrer Vielfalt gehört die
stärkere ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft. Dies
schließt insbesondere ökologisches
Verantwortungsbewußtsein bei der Erzeugung von Nahrungs- und
Futtermitteln, dem Erhalt der natürlichen Bodenfruchtbarkeit,
einer artgerechten Tierhaltung, der Sicherung des Artenreichtums, der
Pflege des Waldes, der Reinhaltung des Wassers und der Bewahrung der
vielfältigen Kulturlandschaft ein. Traditionell werden diese
Leistungen von einer bäuerlich geprägten, neuerdings auch
biologischen Landwirtschaft erbracht, die es deshalb auch durch
tragfähige und sachgerechte politische Rahmenbedingungen zu
fördern und zu erhalten gilt. Die Bauern und Forstwirte
erbringen durch die Pflege der Kulturlandschaft wichtige
gesamtgesellschaftliche Leistungen, die nicht über den
Marktpreis der Produkte abgegolten werden. Die noch vorhandenen
zahlreichen bäuerlichen Familienbetriebe brauchen eine
ausreichende wirtschaftliche Grundlage und Zukunftsperspektive, um
weiterhin existieren zu können und auch der kommenden Generation
noch eine Existenzgrundlage zu erhalten.
(230) Im Bereich des Verkehrs stellen das ständig wachsende
Verkehrsaufkommen und der damit einhergehende weitere Ausbau der
Verkehrsinfrastruktur eine enorme Belastung des Klimas, der
Landschaft sowie der Gesundheit vieler Menschen dar. Notwendige
Reformen müssen auf die Verkürzung der Wege, Verlagerungen
des Verkehrs auf umweltfreundlichere Transportmittel und eine
umweltgerechte Überprüfung und Ausrichtung der
Transportkosten zielen. Nötig ist aber auch, daß die
Verkehrsteilnehmer ihr Mobilitätsverhalten und ihren Lebensstil
ändern.
(231) Änderungen des Lebensstils, die Verzichte
einschließen, sind aber auch in vielen anderen Bereichen
notwendig. Notwendig ist der Übergang von Raubbau und
Wegwerfmentatität zu langfristig tragbaren Wirtschafts- und
Lebensweisen. Bei vielen der wohlhabenden Menschen in den westlichen
Überflußgesellschaften ist überzogenes Konsum- und
Wohlstandsdenken vorherrschend. Diese Haltung gerät zunehmend in
Konflikt mit den Grenzen der ökologischen Belastbarkeit und geht
zu Lasten der Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen
und zu Lasten der Menschen in den sich entwickelnden Ländern. So
wird das Ziel der Nachhaltigkeit ganz sicher verfehlt, wenn das
durchschnittliche Konsumniveau in den Industrieländern weiter
steigt. Deshalb muß das Bewußtsein dafür steigen,
daß mehr Lebensqualität heute kaum noch durch mehr"
und schneller" zu erreichen ist, sondern in wachsendem
Maße durch weniger", langsamer" und
bewußter". Derart veränderte Lebensstile werden sich
vermutlich nur dann verbreiten, wenn deutlich wird, daß ein
Leben, das die Mit- und Umwelt schont, neue Qualitäten hat.
(232) Gerade bei der Aufgabe, die vielfältigen Dimensionen
dessen bewußtzumachen, was wirklich den Namen Wohlstand"
verdient, was also dem dauerhaften Wohl des Menschen dient,
können die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten: Ein
christliches Leben bietet vielfältige Ansätze für eine
Kritik der Gleichsetzung von gut leben" und viel haben".
Die vielfältigen Bedürfnisse des Menschen werden nicht
einfach durch höchstmöglichen Konsum befriedigt. Die Umkehr
zu einem einfacheren Lebensstil kann zu einem Gewinn an
Lebensqualität und kultureller Entfaltung führen. Zugleich
sollte aber nicht verschwiegen werden, daß eine an der
Verantwortungsfähigkeit des Menschen orientierte
dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung für den einzelnen auch die
Bereitschaft zu persönlichem Verzicht einschließt.
5.4 Die europäische Einigung vertiefen
und erweitern
(233) In den kommenden Jahren steht die europäische Politik
vor entscheidenden Weichenstellungen. Die Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union haben sich im Grundsatz für eine
Erweiterung der Union um eine Reihe von mittel- und
osteuropäischen Staaten sowie Zypern entschieden. Diese
Erweiterung ist nicht nur eine politische Notwendigkeit. Sie bietet
auch erhebliche Chancen für Europa. Die Mitgliedsstaaten stehen
derzeit vor der Aufgabe, institutionelle Voraussetzungen für
eine handlungsfähige Union mit 25 oder mehr Mitgliedern zu
schaffen. Hierbei kommt es entscheidend darauf an, das Ziel der
Erweiterung mit Schritten einer vertieften Integration zu verbinden.
Es geht um Fragen der politischen Handlungsfähigkeit der Union
in der Außen- und Sicherheitspolitik, um eine gemeinschaftliche
Innen- und Rechtspolitik und um die verbindliche Geltung von Grund-
und Menschenrechten auf Unionsebene. Zu den Kernfragen gehört,
ob die Mitgliedstaaten bereit sind, sich grundsätzlich vom
Prinzip der einstimmigen Entscheidung zu lösen und
Mehrheitsentscheidungen in politisch sensiblen Bereichen zu
akzeptieren. Es geht um die Entscheidung zwischen nationalstaatlicher
Souveränität und gemeinschaftsrechtlicher
Zuständigkeit in zentralen Politikbereichen.
(234) Die Sozialpolitik zählt in der Europäischen Union
nach wie vor zu den besonders kontroversen Themen. Es ist notwendig,
daß die im Vertrag von Maastricht definierten Bereiche einer
europäischen Sozialpolitik künftig für alle
Mitgliedsstaaten der Union verbindlich gelten. Die Mitgliedsstaaten
sind insbesondere uneins in der Frage eines weiteren Ausbaus
verbindlicher sozialer Mindestregeln für alle EU-Staaten. Dieser
Ausbau ist eine wichtige Voraussetzung für gleiche
Wettbewerbsbedingungen und eine stärkere Konvergenz der sozialen
Sicherung sowie eine Ermutigung für die jungen Demokratien in
Mittel- und Osteuropa, sich durch den Aufbau eigener sozialer Systeme
auf ihren Beitritt zur Europäischen Union vorzubereiten. Hierbei
ist darauf zu achten, daß soziale Mindeststandards bei
notwendiger Vermeidung einer Überforderung weniger entwickelter
Staaten nicht zu einer Einigung auf dem niedrigsten Niveau und damit
zu einer potentiellen Aushöhlung der nationalen
sozialstaatlichen Gewährleistungen führen.
(235) Zu den wichtigsten Aufgaben zählt die Einführung
einer dauerhaft stabilen und einheitlichen europäischen
Währung. Was immer man gegen dieses Vorhaben einwenden mag, die
gemeinsame Währung ergänzt notwendig den europäischen
Binnenmarkt, der erst dann seine volle Wirkung wird entfalten
können, wenn auch gleichzeitig ein einheitlicher Finanzmarkt
besteht. Eine einheitliche und dauerhaft stabile Währung vermag
nicht nur eine verläßliche Grundlage für die
wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Ausgleich auf
europäischer Ebene zu bieten, sondern ist gleichzeitig auch ein
Beitrag zu einer stabilen internationalen Währungsordnung und
Voraussetzung dafür, daß die europäische Integration
insgesamt gelingt. Wesentlich ist, daß bei notwendigen
Veränderungen und Umverteilungen der soziale Schutz für die
Schwächeren nicht preisgegeben und die Lasten sozial gerecht von
allen getragen werden.
(236) Vieles ist bereits erreicht. Für einen großen
Teil der Bevölkerung in Westeuropa sind gestiegener Wohlstand,
grenzüberschreitende Niederlassungsmöglichkeiten und
kontrollfreie Reisemöglichkeiten selbstverständlich
geworden. Annähernd 50 Jahre europäischer
Integrationspolitik haben es jedoch nicht vermocht, ein
ausgeprägtes europäisches Gemeinschaftsbewußtsein und
eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln. Die
Kirchen in Deutschland sehen es als eine wichtige Aufgabe an, im
Zusammenwirken mit ihren ökumenischen Partnern in Europa dazu
einen Beitrag zu leisten. Das Bewußtsein eines versöhnten
Miteinanders in aller Verschiedenheit, die Fähigkeit,
aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen, und der Wille, die
Zukunft Europas gemeinsam zu gestalten, sind erforderlich, um die
Herausforderungen an der Schwelle zum Jahr 2000 zu meistern.
5.5 Verantwortung in der Einen Welt
wahrnehmen
(237) Mehr und mehr haben die Menschen erkannt, wie notwendig ein
solidarisches und verantwortliches Miteinander der Staaten der
Völkergemeinschaft ist. Dies hat zu zahlreichen inter- und
supranationalen Vereinbarungen geführt. Auch die weniger
entwickelten Länder, die nur wenig weltpolitische
Gestaltungskraft besitzen, werden mehr und mehr in die
Gesamtverantwortung eingebunden, denn das Weltgemeinwohl kann nicht
allein durch jene besonders wirtschaftsstarken Nationen
gewährleistet werden, die sich zur sog. G7-Gruppe
zusammengeschlossen haben. Insbesondere versuchen die großen
UN-Weltkonferenzen, das Bewußtsein für die
Gesamtverantwortung aller Staaten zu wecken und den Kampf gegen
Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung zur gemeinsamen
Aufgabe zu machen. Nationale Wege, so wichtig sie im einzelnen auch
sein mögen, reichen in einem System internationaler
Arbeitsteilung nicht mehr aus.
(238) Inzwischen gibt es Ansätze eines solidarischen
Verhaltens im Handels- und Umweltrecht, bei der Bekämpfung der
Kriminalität, bei der Hilfe in Währungsturbulenzen, in
Katastrophenfällen, in der Gesundheitspolitik, in der
Sicherheitspolitik, bei der Bewältigung von
Migrationsströmen, im Kampf gegen Erosion und Versteppung, beim
Schutz der Meere, in Sicherheitsfragen der Nuklearenergie, bei der
Nichtverbreitung von Kernwaffen und anderem mehr. Eine solidarische
Weltgesellschaft muß also nicht neu erfunden werden, sondern
kann an diese Ansätze anknüpfen.
(239) Einigkeit besteht weitgehend darin, daß die
Regierungen in den armen Ländern aufgefordert sind, durch
situationsgerechte interne Rahmenbedingungen eine sozial und
ökologisch verträgliche Entwicklung in ihren Ländern
zu fördern. Das gelingt aber nur, wenn Industrieländer wie
die Bundesrepublik Deutschland, die eine erhebliche Leitbildfunktion
haben, Modelle zukunftsorientierten Wirtschaftens anbieten und durch
ihr außenwirtschaftliches Verhalten stützen.
(240) Es zeigt sich ein gefährlicher Trend, nach dem Ende der
Ost-West-Konfrontation die Mittel zu kürzen, mit denen bislang
der soziale Sprengstoff zwischen Nord und Süd entschärft
werden sollte. Noch immer entwickelt die Schuldenkrise in einer Reihe
von Ländern des Südens eine gefährliche Eigendynamik
und zerstört, was mit Entwicklungshilfe aufgebaut werden
soll.
(241) Hinzukommen müssen weitreichendere internationale
Absprachen und Vereinbarungen. Notwendig erscheinen eine Verbesserung
des internationalen Rechts (vor allem im Handelsrecht und im
Kartellrecht), ein entschlossener Abbau von Protektionismus, Schritte
zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht und die Entwicklung eines
internationalen Sozialrechts, wie dies in den Regelungen zur
Zwangsarbeit, zur Kinderarbeit u.ä. bereits begonnen wurde.
Ferner ist die internationale sozial- und entwicklungspolitische
Kooperation auszuweiten. Es geht darum, die internationale
Entwicklung unter den Primat der Politik zu bringen und einen
Ordnungsrahmen mit wirksamen Sanktionen und Instrumenten zu schaffen.
Sie sollten der gemeinsamen Verantwortung für soziale Sicherheit
und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene einen neuen Stellenwert
geben.
(242) Verantwortung für die Eine Welt wahrnehmen
bedeutet,
- daß alle nationalen Entscheidungen auch aus der Sicht
dieser Einen Welt zu treffen sind: Das gelingt nur, wenn die
Entwicklungspolitik endlich Querschnittsthema der Gesamtpolitik
wird und nicht nur Aufgabe eines einzelnen Ressorts bleibt;
- daß die Entwicklungspolitik im europäischen Kontext
besser koordiniert wird: Das ist durch das Kohärenzgebot und
die Koordinierungsverpflichtung im Maastrichter Vertrag bereits
vereinbart und sollte zügig realisiert werden;
- daß die Gruppe der armen Länder in internationalen
Gremien ein größeres Mitspracherecht erhält, so
daß es ihnen leichter fällt, sich in Aufgaben für
das Weltgemeinwohl einbinden zu lassen;
- daß im Blick auf die mit den internationalen
Finanzmärkten verbundenen Risiken verbesserte Aufsichts- und
Kontrollmöglichkeiten über die auf diesen Märkten
international Tätigen entwickelt werden. Neue internationale
Absprachen über eine wirksamere Bankenaufsicht sind
ansatzweise bereits eingeleitet. Eine verbesserte Aufsicht
muß vor allem auch den Wertpapierhandel sowie die Fonds- und
Versicherungsbranche einschließen;
- daß im Rahmen einer international abgestimmten,
kohärenten Flüchtlings- und Migrationspolitik die
Ursachen und negativen Auswirkungen von Vertreibung, Flucht und
Migration vermieden und entschärft werden. Jede
Maßnahme, die unmittelbar auf die Verbesserung der
Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern selbst, auf die
Beseitigung der Armut, bessere Bildungschancen und eine
lebenswerte Umwelt gerichtet ist, dient zugleich auch der
Verminderung von Flucht- und Migrationsursachen.
6. Aufgaben der Kirchen
(243) Es genügt nicht, wenn die Kirchen die wirtschaftlichen
und sozialen Strukturen und die Verhaltensweisen der darin
tätigen Menschen thematisieren. Sie müssen auch ihr eigenes
Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken. Das
kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft
wirkt um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine
Entsprechung findet.
6.1 Das eigene wirtschaftliche Handeln der
Kirchen
(244) Die Kirchen sind als Arbeitgeber, Eigentümer von Geld-
und Grundvermögen, Bauherr oder Betreiber von Einrichtungen und
Häusern auch wirtschaftlich Handelnde. Sie können nicht
Maßstäbe des wirtschaftlichen Handelns formulieren und
öffentlich vertreten, ohne sie auch an sich selbst und das
eigene wirtschaftliche Handeln anzulegen. Mit Recht wird dies als
eine Frage der Glaubwürdigkeit angesehen. Die
Glaubwürdigkeitsforderung erledigt allerdings nicht die
Auseinandersetzung mit den Einsichten und Forderungen, die eine
Person oder Institution vertritt. Solche Einsichten und Forderungen
behalten, wenn sie wohlbegründet sind, ihre Gültigkeit,
auch wenn die, die sie vertreten, selbst an ihnen scheitern.
(245) Die Kirchen sind mit ihrer Diakonie und Caritas große
Arbeitgeber. In dieser Rolle sind sie - nicht weniger und nicht mehr
als andere Arbeitgeber - gefordert, Arbeitsverhältnisse
familiengerecht zu gestalten (z. B. flexible Arbeitszeiten),
für einen fairen Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
einzutreten, den Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und
Männern zu beachten und für eine konsequente Umsetzung der
Ordnungen für die Vertretung und Mitwirkung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter mit ihren Mitsprache- und
Mitbestimmungsmöglichkeiten zu sorgen. In jüngster Zeit
sind die Kirchen durch Rückgänge bei den Einnahmen erstmals
nach einer langen Phase der Expansion in die Lage geraten, die Zahl
der Arbeitsplätze vermindern zu müssen. In dieser
angespannten Situation sind alle gefordert, mit sozialem
Verantwortungsbewußtsein, sozialer Phantasie und
Flexibilität soziale Härten abzuwenden. Besondere Beachtung
verdienen Vorschläge, die auf maßvolle
Einschränkungen beim Gehalt von kirchlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in den mittleren und oberen Gehaltsgruppen zielen. Wo
einschneidende Sparmaßnahmen unausweichlich sind, muß dem
Teilen von Arbeit der Vorrang vor dem Abbau von Stellen und vor
Entlassungen zukommen. Gehaltseinschränkungen und
Stellenteilungen müssen allerdings in vernünftigem Rahmen
und mit Augenmaß erfolgen. Eine gute und aufopferungsvolle
Arbeit verlangt auch ihren gerechten Lohn.
(246) Die Kirchen verfügen, bei großen Unterschieden im
einzelnen, über Geld- und Grundvermögen. Es dient insgesamt
religiösen, sozialen und kulturellen Zwecken. Teile des
Vermögens sind nicht oder kaum veräußerbar.
Bei der Entscheidung für Investitionen, der Auswahl von
Geldanlageformen und der Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern
haben die Kirchen noch strengere Maßstäbe anzulegen als
wirtschaftliche Unternehmen. Auch unterliegen die Kirchen einer
besonderen Verpflichtung, in der Orientierung am Gemeinwohl
Grundstücke für öffentliche und soziale Zwecke,
vornehmlich für den sozialen Wohnungsbau gegebenenfalls in
Erbpacht, zur Verfügung zu stellen, wie es vielerorts seit
langem praktiziert wird.
(247) In ihrer Bautätigkeit, die heute vorrangig in
Maßnahmen der Substanzerhaltung, der Renovierung und Sanierung
besteht, müssen sich die Kirchen der Verantwortung für die
investierten Mittel, aber auch für die Kulturlandschaft, die sie
durch ihre Bauten mitprägt, bewußt sein. Bei
kircheneigenen Zweckbauten, etwa Pfarrhäusern, ist auf
Einfachheit der Ausstattung zu achten.
Die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen in
kirchlichem Besitz sollte nach umweltgerechten und naturschonenden
Kriterien erfolgen. Die Verantwortung für die Schöpfung
soll darüber hinaus auch in der kirchlichen Bautätigkeit,
in der Bewirtschaftung kirchlicher Einrichtungen und Häuser, bei
der Durchführung kirchlicher Veranstaltungen und bei der
Regelung von dienstlichen Reisen und ihrer Kosten wirksam werden. Die
kirchlichen Umweltbeauftragten haben dafür zahlreiche konkrete
Vorschläge unterbreitet.
6.2 Weltgestaltung und
Verkündigung
(248) Der Konsultationsprozeß hat die Möglichkeit und
die Notwendigkeit der kirchlichen Beteiligung am gesellschaftlichen
Dialog über die wirtschaftliche Situation und die sozialen
Spannungslagen der Gegenwart deutlich gemacht. Als
Glaubensgemeinschaften verkündigen die Kirchen die biblische
Botschaft von Gottes Zuwendung zu allen Menschen und Gottes Treue zu
seiner Schöpfung. Als gottesdienstliche Gemeinschaften feiern
sie Gottes gnädiges Erbarmen, das den Menschen immer wieder
einen neuen Anfang schenkt. Als diakonische Gemeinschaften
bemühen sie sich unmittelbar um Notleidende und Benachteiligte
und setzen sich für die Verwirklichung einer solidarischen und
gerechten Gesellschaft ein.
Die Kirchen leben und wirken mitten in der Gesellschaft und nehmen
deshalb an ihren Umbrüchen und Entwicklungen teil. Sie werden
dabei von ihrer Berufung zur Solidarität mit den Armen geleitet
und folgen der Bewegung Gottes, der sich vorrangig den Armen,
Schwachen und Benachteiligten zugewandt hat, damit alle Leben
in Fülle haben" (Joh 10,10).
(249) Die Kirchen stehen in der biblischen und christlichen
Tradition von Recht und Erbarmen. Gott fordert die Menschen
nachdrücklich dazu auf, aus Erbarmen zu handeln und sich
für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. Deshalb bemühen
sich Christen um Arme, aber auch um gerechtere Strukturen in der
Gesellschaft, die geeignet sind, Armut zu verhindern.
(250) Der diakonische und caritative Dienst an Menschen in Not
gehört seit den Anfängen der Kirche zu ihren
unveräußerlichen Kennzeichen und ist auch für die
Zukunft verpflichtend.
Heute vollzieht sich der diakonische und caritative Dienst der
Kirchen auf mehreren Ebenen. Im Blickpunkt der Öffentlichkeit
stehen die großen Werke, auf evangelischer Seite das
Diakonische Werk, auf katholischer Seite die Caritas. Mit ihrer
Arbeit und ihren Initiativen sind sie in hohem Maße in den
Dienst an der Gesellschaft einbezogen. Sie leisten mit ihren sozialen
Einrichtungen, Kindergärten, Beratungsstellen, Sozialstationen,
Rehabilitationseinrichtungen und vielem anderem mehr eine wirksame
und unverzichtbare Hilfe für das Gemeinwesen. Für die
Wahrnehmung dieser Aufgaben benötigen und erhalten die Kirchen
staatliche Hilfen. In vielfältiger Gestalt gibt es kirchlich
getragene soziale Betriebe, Werkstätten, Einrichtungen der
Jugendarbeit, Baugruppen zur Renovierung von Sozialwohnungen oder
Jugendheimen, Projekte Neue Arbeit", Gruppen, die den
Strukturwandel in einer Region begleiten, oder Treffpunkte für
Angehörige verschiedener Generationen. Jüngste
Änderungen der Sozialgesetzgebung, die die Erfüllung der
sozialen Aufgaben und Dienstleistungen nach dem Marktprinzip
umzugestalten versuchen, stellen Diakonie und Caritas vor erhebliche
Probleme. Noch ist die weitere Entwicklung nicht zu übersehen.
Alles diakonische Tun aber den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen,
ist weder der Sache noch den Menschen dienlich.
Um so wichtiger sind die Initiativen, die auf neue
Herausforderungen reagieren und innovative Antworten geben. Die
diakonische und caritative Arbeit der Kirchen hat sich über die
Jahrhunderte immer wieder aus solchen Impulsen erneuert.
Von bleibender Bedeutung ist die Ebene der Kirchen- und
Pfarrgemeinden. Diakonische und caritative Arbeit darf sich nicht auf
die professionalisierten Dienste beschränken und darf nicht
einfach an sie abgegeben werden. Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen
und Verbände haben besondere Möglichkeiten, mit ihrer
sozialen, diakonischen oder caritativen Arbeit Impulse in die
gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. Den
Initiativen mit Arbeitslosen, arbeitslosen Jugendlichen, Armen und
sozial Schwachen kommt gegenwärtig besondere Bedeutung zu. Sie
begleiten diese Personenkreise und bieten Hilfen zur
Wiedereingliederung an. Besuchsdienstkreise und Treffpunkte für
Arbeitslose sind Ansatzpunkte dafür, die soziale Verantwortung
der Gemeinden zu erhöhen. Es ist wichtig, daß
Kirchengemeinden und Verbände mit Hilfe solcher Aktivitäten
die sie umgebende soziale Wirklichkeit wahrnehmen und den sozial
Benachteiligten in ihrer eigenen Mitte Aufmerksamkeit schenken.
Entscheidend wird sein, daß Christen und Gemeinden nicht bei
einzelnen diakonischen Aktivitäten und Maßnahmen stehen
bleiben. Es geht um eine neue Bekehrung zur Diakonie", in der
die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen, die Hilfe
nötig haben, zur Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der
Christen werden.
(251) Der Horizont des Dienstes an Menschen in Not hat sich in den
letzten Jahrhunderten fortschreitend erweitert. Nächstenliebe
ist auch Fernstenliebe geworden. Das hat in kirchlichen Hilfswerken
weltweiter Solidarität und entwicklungspolitischen
Aktivitäten seinen Niederschlag gefunden.
Die Kirche ist ihrem Wesen nach weltweit,
grenzüberschreitend. Sie verfügt über besondere
Möglichkeiten, den Blick der Menschen für die Eine Welt zu
öffnen und das Bewußtsein der Verantwortung über das
eigene Land und Volk hinaus zu schärfen. Die ökumenische
Zusammenarbeit mit Kirchen aus der ganzen Welt und die intensiven
Partnerschaften mit Gemeinden und Ortskirchen erweitern den
Gesichtskreis über den eigenen Kulturraum hinaus. Solche
Kontakte erinnern zugleich an die Not des Südens und die
wechselseitigen weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die
Beteiligung der Kirchen am konziliaren Prozeß für
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" bedeutet
eine umfassende Orientierung kirchlichen Handelns an den
drängenden Aufgaben gesellschaftlicher Veränderung. In
ökumenischer Zusammenarbeit stellen sich die Christen den
großen Überlebensfragen der Menschheit. Das Engagement
für die Länder des Südens führt zu neuen
Anstößen auch im eigenen Bereich.
Direkte Hilfe wird insbesondere von den großen Werken wie
Adveniat", Brot für die Welt", Hoffnung
für Osteuropa", Misereor", Missio" und
Renovabis" geleistet. Sie dienen aber nicht nur der Einwerbung
von Spenden und ihrem fachkundigen Einsatz bei der Katastrophenhilfe
oder längerfristigen Entwicklungsmaßnahmen, sondern ebenso
der entwicklungs- und wirtschaftspolitischen
Bewußtseinsbildung. Aufgrund ihrer direkten Kontakte in die
betroffenen Länder und der in langjährigem Engagement
erworbenen Erfahrungen sind die Kirchen zu einem wichtigen und
geachteten Träger entwicklungspolitischer Projekte geworden.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die
Bemühungen der Kirchen in ihrer Gemeinsamen Konferenz
Kirche und Entwicklung", den Dialog im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensinitiativen zu
verbessern.
Neben kirchlichen Finanzmitteln stehen für diese Aufgaben
auch staatliche Gelder zur Verfügung. Die in den letzten Jahren
bei den Kirchen spürbar werdenden finanziellen Engpässe
machen es zunehmend schwierig, das bisherige Niveau der für die
kirchlichen Entwicklungsdienste zur Verfügung gestellten Mittel
aus Kirchensteuern zu halten. Die Kirchen erfahren hier im eigenen
Bereich, welche Konflikte und Schmerzen mit Prioritätendebatten
verbunden sind.
(252) Einige weitere Bereiche, in denen die Kirchen ihren Auftrag
zur Weltgestaltung konkret wahrnehmen und weiterhin wahrnehmen
müssen, seien nur kurz genannt:
- Gemeinden und Kirchenkreise, Diözesen und Landeskirchen
haben Runde Tische sozialer Verantwortung" ins Leben
gerufen. Dabei wird versucht, das Gespräch zwischen
Vertretern und Vertreterinnen aus Politik und Verwaltung,
insbesondere aus Sozialbehörden und Arbeitsverwaltungen, aus
Kammern und Betrieben, Gewerkschaften und
Unternehmervereinigungen, der Medien und nicht zuletzt der
betroffenen Bevölkerungsgruppen über die sozialen
Probleme vor Ort anzustoßen. Runde Tische bewähren sich
in solchen Fällen, weil sie das Bewußtsein
stärken, daß regionale Probleme wirtschaftlicher und
sozialer Art nur gemeinsam bewältigt werden können.
- Diese Mittlerrolle können die Kirchen um so leichter
übernehmen, wenn sie einen kontinuierlichen und intensiven
Kontakt mit der Arbeitswelt pflegen. Die Sorge gilt dabei den
arbeitenden Menschen, einschließlich derer, die
unternehmerische Verantwortung tragen, aber auch den Wandlungen
der Arbeitswelt selbst. Die Kontakte dürfen nicht erst im
Konfliktfall, etwa bei drohenden Betriebsschließungen,
aufgenommen werden. Regelmäßige Besuche in Betrieben
und regelmäßige Gespräche mit den
Arbeitgeberorganisationen, dem Handwerk und den Gewerkschaften
schaffen eine Basis des Vertrauens, auf der dann auch im
Konfliktfall aufgebaut werden kann.
- Die Kirchen engagieren sich gegen Ausländerfeindlichkeit
und bemühen sich, zum Aufbau einer positiven Einstellung
gegenüber Fremden in der Gesellschaft beizutragen. Dies
geschieht, indem Begegnungen vor Ort initiiert und gemeinsame
Veranstaltungen angeboten werden. Die Kirchen setzen sich, auch
durch praktische Hilfe und Unterstützung, für eine
bessere soziale Integration ein. Vor allem beteiligen sie sich an
der Sorge um ausländische Kinder und Jugendliche. Sie treten
ein für eine menschenwürdige und gerechte
Asylpraxis.
- Der Einsatz für den Umweltschutz im kirchlichen Raum
hilft mit, das gesellschaftliche Bewußtsein für die
Notwendigkeit eines nachhaltigen Wirtschaftens zu stärken.
Das Engagement vieler Christen für die Erhaltung der
natürlichen Grundlagen des Lebens hat aber nicht allein in
der Gründung gesonderter kirchlicher Umweltinitiativen,
sondern vor allem auch in der Mitarbeit in den allgemeinen
Umweltverbänden seinen Ausdruck gefunden.
(253) Die Verkündigung des Wortes Gottes, seine Zuwendung zu
allen Menschen, steht im Mittelpunkt kirchlichen Handelns. Die Kirche
bezeugt Gottes Zuspruch und seinen Anspruch auf das ganze Leben. Ein
Leben aus der Gnade Gottes nimmt die Angst, zu kurz zu kommen, und
schenkt zugleich Mut und Zuversicht zum Handeln. Deshalb ist diese
Verkündigung nicht nur auf den einzelnen in seiner
unvertretbaren Freiheit, sondern ebenso auf die strukturellen -
sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen - Bedingungen seiner
Existenz gerichtet. Die Kirchen dürfen sich nicht in einer
Nische der pluralistischen Gesellschaft mehr oder weniger bequem
einrichten. Ihre Verkündigung muß sich auch darin
bewähren, daß sie Ferment einer gerechten und
solidarischen Gesellschaftsordnung wird.
(254) Die Verkündigung der Kirchen ist angewiesen auf eine
sensible und nüchterne Wahrnehmungsfähigkeit und
Wahrnehmungsbereitschaft. So leben z. B. Menschen, die unter
Arbeitslosigkeit oder Armut leiden, oft auch mitten in der
kirchlichen Gemeinschaft und doch an der Peripherie sozialer
Wahrnehmung. Nur wenn die nicht unmittelbar Betroffenen eine
entsprechende Wahrnehmungsbereitschaft entwickeln, setzt ein
Prozeß des Verstehens ein. Wahrnehmungsbereitschaft und
Wahrnehmungsfähigkeit setzen Einfühlungsvermögen
voraus. Sie wachsen mit der Kenntnis von wirtschaftlichen und
sozialen Zusammenhängen, von ethischen Normen und
Wertmaßstäben und vom christlichen Menschen- und
Gesellschaftsbild. Die Predigt muß noch mehr die
Lebenswirklichkeit der Menschen aufgreifen und im Lichte des
Evangeliums und der an ihm orientierten christlichen Sozialethik
deuten.
(255) Zu den in der Wirkung bedeutsamsten kirchlichen
Handlungsmöglichkeiten gehören Bildung und Erziehung. Auch
hier versuchen die Kirchen, Menschen zu einem wertbezogenen Handeln
im persönlichen, sozialen und politischen Bereich zu
befähigen. Dies geschieht in den Gemeinden und Verbänden,
in der Erwachsenenbildung, in der Arbeit der kirchlichen Akademien
und Sozialinstitute sowie in den vielfältigen Formen kirchlicher
Präsenz im staatlichen Bildungsbereich. Mit ihren
öffentlichen Stellungnahmen, Denkschriften und
Diskussionsbeiträgen tragen die Kirchen zur ethischen
Urteilsbildung und zur gesellschaftlichen Konsensbildung bei. Von
besonderer Bedeutung sind der Religionsunterricht in der Schule, auch
und vor allem in der berufsbildenden Schule, das kirchliche Bildungs-
und Erziehungsangebot durch eigene Schulen, Internate und
Kindergärten, aber auch die Präsenz der Kirchen an den
Hochschulen und Universitäten. Hier ereignet sich die
Vermittlung von Werten, die für das Zusammenleben der
Gesellschaft grundlegend sind.
(256) Das kirchliche Leben hat im Gottesdienst sein Zentrum. Im
Gottesdienst empfängt die Kirche Gottes Gabe und antwortet mit
Gebet, Bekenntnis und Lob. Diese Antwort ist vor allem Dank. Wer aus
dem Dank lebt, kann die ganze Wirklichkeit als verdankt verstehen und
darum mit größerer Zuversicht an die Aufgaben herangehen,
die sich dem wirtschaftlichen und sozialen Handeln stellen.
Gesellschaftliches Handeln der Christen verliert an Kraft, wenn es
nicht mehr an das Beten und Feiern zurückgebunden ist. Im
Gottesdienst werden die Christen zum Weltdienst befreit und
beauftragt. Wenn Christen Gottesdienst feiern, treten sie dem radikal
Anderen und doch Nahen gegenüber, dem persönlichen Gott,
der zum Dienst sendet.
6.3 Der Dienst der Kirchen für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit
(257) Die Kirchen sollen erfahrbar werden als
- Orte der Orientierung, an denen aus dem christlichen Glauben
heraus das Fragen nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens und
des Lebens der Gesellschaft wachgehalten wird;
- Orte der Wahrheit und der realistischen Sicht des Menschen, wo
Ängste, Versagen und Schuld nicht vertuscht werden
müssen, weil um Christi willen immer wieder Vergebung und
Neuanfang geschehen;
- Orte der Umkehr und Erneuerung, an denen Menschen sich
verändern, auf ihre Mitmenschen und ihre Nöte aufmerksam
werden und alte Verhaltensweisen ablegen;
- Orte der Solidarität und Nächstenliebe, an denen
untereinander und für andere die je eigene Verantwortung
bejaht und praktiziert wird;
- Orte der Freiheit, an denen erfahren werden kann, daß
Freiheit und Bindung, Selbstentfaltung und Verbindlichkeit nicht
Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen und genau
dieser wechselseitige Bezug für ein gelingendes Leben wichtig
ist;
- Orte der Hoffnung, an denen Perspektiven gesucht werden
für eine sinnvolle Gestaltung gesellschaftlichen
Zusammenlebens und an denen bei dieser Suche der Blick über
das Heute hinaus geöffnet wird.
(258) Wenn der Konsultationsprozeß ein so großes Echo
in der Öffentlichkeit und bei den gesellschaftlich relevanten
Gruppen gefunden hat, dann nicht zuletzt deshalb, weil von vielen
Seiten damit die Hoffnung verbunden wird, die Kirchen könnten
mit dazu beitragen, daß überfällige Reformen in
Wirtschaft und Gesellschaft in Gang kommen. Gesellschaft und Staat
sind darauf angewiesen, daß an die ethischen Voraussetzungen
einer freiheitlichen und sozialen Rechtsordnung erinnert wird und
daß an dem Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch
Kräfte teilnehmen, die nicht partei- und interessengebunden
sind. Im Rahmen einer solchen Mitverantwortung tun die Christen und
die Kirchen ihren Dienst an der Gesellschaft für eine Zukunft in
Solidarität und Gerechtigkeit.
Vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Gemeinsame
Texte
1 Organtransplantationen (1990)
2 Berechtigte Ansprüche zu einem gerechten Ausgleich
bringen (1991)
3 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland
(1994)
4 Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die
Europäische Union (1995)
4a The Relationship of Church and State - A Perspective on the
European Union (1995)
4b Les relations entre l'Etat et l'Eglise au regard de l'Union
européenne (1995)
5 Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in den neuen
Bundesländern (1995)
6 Im Sterben: Umfangen vom Leben (1996)
7 Wissenschaftliches Forum zum Konsultationsprozeß
(1996)
8 Aufbruch in eine solidarische und gerechte Zukunft
(1996)
1 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. Diskussionsgrundlage
für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort
der Kirchen, Gemeinsame Texte 3, hg. vom Kirchenamt der
Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz, 1994.
2 Dokumentiert in: Gemeinsame Texte 7, 1995.
3 Dokumentiert in: Aufbruch in eine solidarische und gerechte
Zukunft, Gemeinsame Texte 8, 1996; vgl. auch: Arbeitsmaterialien
zur Berliner Konsultation, hg. vom Katholisch-Sozialen Institut (KSI)
der Erz-diözese Köln, Bad Honnef, und
Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in
Deutschland (SWI), Bochum, 1996.
4 Dokumentiert und aufgeschlüsselt in: Alle Eingaben zum
Konsultationsprozeß mit Lesehilfen inclusive CD-ROM, hg. vom
KSI, 1996. Vorgesehen ist noch die Herausgabe einer Textsammlung mit
einer Auswahl besonders bemerkenswerter Stellungnahmen; dieser
Reader, der auf typische und markante Aussagen, Anliegen und
Anregungen des Konsultationsprozesses aufmerksam machen soll, wird
derzeit vom SWI vorbereitet.
5 Vorwort der Diskussionsgrundlage für den
Konsultationsprozeß, a.a.O., S. 5.
6 Verabschiedung durch die Deutsche Bischofskonferenz am 19.
Februar 1997, den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 21.
Februar 1997; gemeinsame Endredaktion am 22. Februar 1997.
7 Zu den Herausforderungen durch Flucht und Migration ist ein
eigenständiges Wort der Kirchen in Vorbereitung, das
demnächst erscheinen soll.
8 Gemeinwohl und Eigennutz. Eine Denkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland, 1991, Ziff. 155.
9 Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Verlautbarungen des
Apostolischen Stuhls 82, hg. vom Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz, 1987, Ziff. 39.
10 Vgl. dazu: Unsere Verantwortung für den Sonntag,
Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 1988.