Erfolg für Klinikärzte vor Gericht
Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit
Im Streit um ihre Arbeitszeiten haben deutsche Krankenhausärzte
einen weiteren Erfolg errungen. Das Arbeitsgericht Kiel gab der Klage
eines Assistenzarztes statt, wonach Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit
gerechnet werden soll.
Damit folgte nach dem Arbeitsgericht Gotha im April das zweite deutsche
Gericht einer entsprechenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes.
Bislang weigerte sich die Bundesregierung das Urteil zu akzeptieren,
weil es sich dabei um spanische Klinikärzte gehandelt hatte. Der
Marburger Bund, Verband der Klinikärzte, sieht das neue Urteil
als "fundamentales Signal an die Bundesregierung zur Änderung
des deutschen Arbeitszeitgesetzes". Allgemein wird aber mit weiteren
Instanzen gerechnet. (AZ: 1Ca2113d/01).
Eine Umsetzung des Urteils hätte drastische Folgen. Nach Berechnung
der Krankenhausbetreiber müssten 15 000 Ärzte und 6000 Krankenschwestern
eingestellt werden. Geschätzte Kosten: rund 700 Millionen Mark.
Bereitschaft ist Dienst
Politik und Kliniken tun aber nichts gegen Überstunden von Ärzten
Frank Ulrich Montgomery wirkt ziemlich gut gelaunt, von einem fundamentalen
Signal spricht er. Sicher, das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel
ist noch nicht rechtskräftig, die Stadt Kiel hat Berufung angekündigt,
das Verfahren wird in die nächste Instanz gehen. All das aber ändert
nichts daran der Vorsitzende des Marburger Bundes kann einen
großen Triumph feiern. Erstmals hat ein einzelner Krankenhausarzt
dagegen geklagt, dass der Bereitschaftsdienst als Ruhezeit und nicht
als Arbeitszeit angerechnet wird, und das Gericht hat diesem Arzt Recht
gegeben. Und Kiel, sagt Montgomery, sei erst der Anfang. Zehn Prozesse
stehen in nächster Zeit an, in Hof etwa reicht in diesen Tagen
ein Klinikarzt Klage ein.
Seit 1996 kämpft die Ärztegewerkschaft Marburger Bund gegen
die Ausbeutung junger Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern:
50 Millionen Überstunden im Jahr ohne Freizeitausgleich und Bezahlung,
Knebelverträge, Angst vor Repressalien, ein System, das Ärztepräsident
Jörg-Dietrich Hoppe als paralegal bezeichnet hat, der Staatsanwalt
sei aufgerufen. Da der Bereitschaftsdienst nicht als Arbeits-, sondern
als Ruhezeit eingestuft wird, müssen Ärzte 24 oder gar 32
Stunden an einem Stück Dienst tun. Übermüdete Ärzte
aber sind auch ein Risiko für Patienten. Wer so lange arbeitet,
reagiert, als habe er ein Promille Alkohol im Blut.
Im Oktober vergangenen Jahres entsprach der Europäische Gerichtshof
(EuGH) der Klage von spanischen Ärzten: Bereitschaftsdienst ist
Arbeitszeit, hieß es in diesem Urteil. Seither wartet der Marburger
Bund darauf, dass der Richterspruch von deutschen Politikern und Krankenhausträger
übernommen wird er wartet bisher vergeblich. Auch ein gleich
lautendes Urteil des Arbeitsgerichts Gotha es klagte ein Betriebsrat
hat nichts vorangetrieben.
Arbeitsminister Walter Riester (SPD) bleibt bei seiner Auffassung,
das EuGH-Urteil gelte nur für Spanien, nicht für Deutschland.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) schweigt, die Krankenhausträger
verharren in Abwehrhaltung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft verkündete
am Freitag: Wer die Umsetzung des EuGH-Urteils fordert, muss gleichzeitig
die Frage beantworten, wo die Ärzte und das Personalbudget herkommen
sollen. 15000 Ärzte und bis zu 20000 Pflegekräfte müssten
dann eingestellt werden, betroffen sind alle Akutkrankenhäuser.
In Niedersachsen, sagt Montgomery, erfüllten die Hälfte der
Kliniken nicht die geltenden Arbeitszeitgesetze, geschweige denn das
EuGH-Urteil. Zwei Milliarden Mark würde die Umsetzung kosten, doch
von einem Kostenschub will Montgomery nicht reden: Die Einführung
des unsinnigen Patientenpasses mit der Anschaffung neuer Hard- und Software
verschlinge zwei Milliarden. Das Geld wäre in Kliniken besser angelegt,
in die beste Hardware, die wir haben, die Ärzte. Der
Marburger Bund will nicht mehr länger warten. Das Angebot zu Tarifverhandlungen
wurde erneuert. Notwendig sei in jedem Fall die Einführung von
Zeiterfassungssystemen in den Kliniken, um jede Manipulation zu unterbinden.
Sollte nichts geschehen kommt es zum Computer-Streik, den
der Marburger Bund Anfang November beschlossen hat. Klinikärzte
würden dann Dokumentationsaufgaben verweigern. Will die Politik
etwa, fragt Montgomery, dass wir das im Wahlkampf hochziehen.
Mehr Ärzte durch neues Urteil!
BERLIN - Krise in den Krankenhäusern der Hauptstadt: Berlin braucht
1600 zusätzliche Ärzte.
Die jetzigen 8510 Weißkittel sind mit Arbeit so überlastet,
dass sie auf wöchentliche Arbeitszeiten bis zu 70 Stunden kommen.
Die Überstunden werden zum Großteil weder zeitlich noch finanziell
ausgeglichen. Nun hat ein Urteil den Fall noch prekärer gemacht:
Bereitschaftsdienst, bei dem die Ärzte die ganze Nacht auf Abruf
in der Klinik bleiben müssen und der bis dato als Ruhezeit gilt,
wird künftig als Arbeitszeit anerkannt.
Ein Kieler Arzt hatte geklagt und vor dem Arbeitsgericht Recht bekommen:
"Bereitschaftsdienste sind Arbeitszeiten", stellte der Vorsitzende
Richter fest. Wird das Urteil umgesetzt, müssen bundesweit 15000
Ärzte eingestellt und 2 Milliarden Mark lockergemacht werden.
Professor Manfred Dietel, Ärztlicher Direktor der Charité:
"Allein an der Charité brauchten wir 200 neue Ärzte.
Obwohl wir alles versuchen werden, die Ausgaben niedrig zu halten, wird
es einen Kostenanstieg geben." Davon ist auch die Ärztekammer
überzeugt. Der Berliner Arzt Daniel Sagebiel rechnet in einer Studie
mit 160 Millionen Mark Mehrkosten allein in den Krankenhäusern
der Hauptstadt. Die AOK dementiert unterdessen Meldungen über mögliche
Beitragserhöhungen, und das Gesundheitsministerium will sich nicht
dazu äußern.
Bereitschaftsdienst soll als Arbeitszeit gelten
Arbeitsministerium will Kieler Ärzte-Urteil prüfen Berlin/Kiel
(rpo).
Das Bundesarbeitsministerium will das umstrittene Kieler Urteil zum
Bereitschaftsdienst für Krankenhausärzte gründlich prüfen.
Nach dem Urteil sind Bereitschaftsdienste Arbeitszeiten und keine Ruhezeiten.
Das Urteil von Donnerstag, gegen das die Stadt Kiel wegen der grundsätzlichen
Bedeutung Berufung angekündigt hat, liegt dem Ministerium allerdings
noch nicht vor. Die schriftliche Urteilsbegründung solle nach Auskunft
des Gerichtes in etwa vier Wochen vorliegen, teilte das Ministerium
am Freitag in Berlin mit. Die 1. Kammer des Kieler Arbeitsgerichtes
hatte am Donnerstag unter Berufung auf eine Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofes (EuGH) der Feststellungsklage eines Krankenhausarztes
stattgegeben (Aktenzeichen 1Ca2113d/01).
In einer Mitteilung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hieß
es am Freitag, da das Urteil nicht rechtskräftig sei, gelte bis
auf weiteres das Arbeitszeitgesetz, das den Bereitschaftsdienst der
Ruhezeit zurechnet. Nach Berechnungen von Krankenhausärztevertretern
und DKG würde eine Anerkennung von Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit
dazu führen, dass 15 000 Ärzte eingestellt werden
müssten. Die Mehrkosten betrügen rund zwei Milliarden Mark
(1,02 Milliarden Euro).
Der EuGH hatte im Oktober 2000 zum Bereitschaftsdienst von Ärzten
in Spanien entschieden, dass Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit zu
werten ist. Das Arbeitsministerium teilte mit, die Bundesregierung stehe
wegen des Urteils im Dialog mit der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten,
den in Deutschland betroffenen Verbänden und den Bundesländern.
Die EU-Kommission habe bislang noch keine Aussagen zur Bedeutung der
EuGH-Entscheidung gemacht, hieß es in der Mitteilung weiter. Die
Bundesregierung wolle die offenen Punkte mit der Kommission und den
anderen Mitgliedstaaten klären. In Deutschland würden zur
Klärung der weiteren Verfahrensweise Gespräche mit Gewerkschaften,
Ärzteverbänden und Arbeitgebervertretern sowie den Bundesländern
geführt. Das Ministerium wies darauf hin, dass Arbeitszeitpläne,
die zu einer planmäßigen Überlastung des Personals führen,
bereits jetzt gegen geltendes Recht verstoßen.